18.02.2014 – NZZ – Für die Freiheit der bürgerlichen Gesellschaft

Gastkommentar zu Europas Zukunft
Für die Freiheit der bürgerlichen Gesellschaft
Debatte Dienstag

Thomas Rietzschel, Publizist

Als er, der Ämter ledig, auf Rente gesetzt war, ist dem einstigen SPD-Chef und Vizekanzler Franz Müntefering ein Licht aufgegangen. «Ich glaube», sagte er 2013, «dass wir die Menschen in ihrer Fähigkeit unterschätzen, Zusammenhänge zu begreifen.» Für die Zukunft empfahl er seinen Kollegen, sie «sollten weniger Angst vor dem Bürger haben». Zwischen den Zeilen las sich das wie die Beichte eines Berufspolitikers, der mit allen Wassern gewaschen war. «Münte» wusste immer, wie der Hase läuft, dass die Politiker den Bürgern, auf die sie sich berufen, nicht über den Weg trauen.

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28.11.2013 – ORF – Kinderhandel: Blinder Fleck in Österreich?

Österreich tue zu wenig gegen Kinderhandel und Kinderprostitution, kritisiert die Organisation EPCAT. In den letzten drei Jahren seien nicht mehr als elf Opfer in Österreich befreit worden. Ein Grund dafür sei, dass in Österreich Schutzwohnungen für Opfer des Kinderhandels fehlten.

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25.01.2014 – Schweiz am Sonntag – Alle drei Tage wird ein Kind entführt

Alle drei Tage wird ein Kind entführt

Fabienne Riklin
Fabienne Riklin ist Redaktorin bei der Zeitung «Schweiz am Sonntag».
Samstag, 25. Januar 2014 23:31

Isabelle Neulinger schrieb Rechtsgeschichte: Der Europäische Menschenrechtshof hiess Entführung gut. Screenshot

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19.12.2010 – Presse – Chronologie: Kampf gegen Kinderpornografie

19.12.2010 | 15:01 | (DiePresse.com)

Jahrelange Ermittlungen über die Landesgrenzen hinweg: In den vergangenen Jahren sind den Behörden einige Erfolge im Kampf gegen Kinderpornografie gelungen.

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Rom | 6. bis 9. Februar | Konferenz zum Thema sexueller Missbrauch in der katholischen Kirche mit Bischöfen aus aller Welt | www.kathweb.at |

Rund 220 Bischöfe und Ordensobere diskutieren von 6. bis 9. Februar zum Thema „Auf dem Weg zur Heilung und Erneuerung“ – Österreich durch Bischof Küng vertreten
04.02.2012

Vatikanstadt (KAP) Mit rund 220 teilnehmenden Bischöfen und Ordensoberen beginnt am Montagabend in Rom eine große

  • internationale Konferenz zum Thema sexueller Missbrauch in der katholischen Kirche. Weiterlesen

14.02.2012 um 23:25h – ARTE – Yellow Cake – Die Lüge von der sauberen Energie – Dokumentarfilm von Joachim Tschirner, Deutschland 2010

14.02.2012 (Dienstag) um 23:25h

ARTE 

Yellow Cake
Die Lüge von der sauberen Energie

Regie: Joachim Tschirner

 

Der Dokumentarfilm beginnt in Sachsen und Thüringen, wo über Jahrzehnte der drittgrößte Uranproduzent der Welt, die Wismut, beheimatet war. Eine ökologische Zeitbombe baute sich auf, mit deren Beseitigung sich Deutschland noch bis 2040 herumplagen muss. Von Deutschland führt der Film unter anderem in die Namib, die älteste Wüste der Welt mit einem hochempfindlichen Ökosystem. Hier produziert seit 1976 die Rössing-Mine. Das abgebaute Uran geht nach Asien, Amerika und Europa. Zurück bleiben radioaktive Halden und belasteter Feinstaub, den der Wind in die Wüste, aber auch in die nahe Hafenstadt Swakopmund trägt.

In Australien, im Gebiet der Aborigines, traf der Regisseur einen mutigen Landeigentümer, der, würde er seine Genehmigung zum Abbau des Urans geben, plötzlich sehr reich wäre. Doch er widersetzt sich, weil – wie er sagt – man Geld nicht essen kann und die Zerstörung der Umwelt nicht wiedergutzumachen ist.

Beim Atlantis Filmfest in Wiesbaden gewann der Dokumentarfilm im Oktober 2010 den Ersten Preis. Aus der Laudatio: „Es ist ein Film, der uns als Jury so beeindruckt hat, weil er sich ganz unprätentiös, beinah sperrig einem Thema widmet, das kaum brisanter sein könnte. Dabei tut er es mit viel Umsicht, wägt ab und will die vielen Teilaspekte berücksichtigen, die in diesem Thema stecken.

Der Film beginnt in einem dunklen Labyrinth, das so groß ist, dass es von Berlin nach Moskau und zurückreicht. Dieser Anfang wirkt fast wie der visualisierte Bauplan des Films, ein dunkles Dickicht mit hier und da einigen Lichtpunkten und Abzweigungen.

Der Film führt uns durch das Labyrinth des Uranabbaus, einem Thema, das davon geprägt ist, dass wir kaum etwas darüber wissen und wohl auch nicht wissen sollen. Der Film entreißt dem Geflecht der Geheimhaltung und der Desinformation viele Aspekte und zerrt sie ans Licht. Als Jury war uns bewusst, welchem Mut und welcher Beharrlichkeit es bedarf, um sich einem solchen Thema zu widmen.

Es ist ein Film mit Haltung, der klar Position bezieht. Es ist aber auch ein Film, der dem Zuschauer Raum lässt, ihn nicht mit seiner Erkenntnis erschlägt, sondern ihm mitunter überlässt, eigene Zusammenhänge herzustellen. Der Film erzählt in ruhigen, fast stoischen Kameraeinstellungen. Er zwingt uns genau hinzuschauen und nimmt sich Zeit, die Zerstörung aus der Luft wahrzunehmen, die der Uranbergbau in die Landschaft gerissen hat.“

Quelle: ZDF – http://www.zdf.de/ZDFde/inhalt/28/0,1872,1404028_idDispatch:11314146,00.html

02.02.2012 – kathweb – Rom: Großer Kongress über sexuellen Missbrauch in der Kirche

Vertreter von Bischofskonferenzen aus aller Welt beraten in der kommenden Woche geeignete Maßnahmen zur Vorbeugung von sexuellem Missbrauch – Korrespondentenbericht von Thomas Jansen
02.02.2012

Rom, 02.02.2012 (KAP) Es ist eine Szene, die mehr sagt als viele Worte: Rund 100 Bischöfe aus der ganzen Welt, in einem Hörsaal versammelt, hören einer Frau zu, die als Kind von einem Priester sexuell missbraucht wurde. Augenscheinlicher könnte die gewachsene Sensibilität für dieses Thema in der katholischen Kirche nach den verheerenden Skandalen in zahlreichen Ländern kaum sein. Die Schilderungen der Irin eröffnen eine internationale Konferenz über sexuellen Missbrauch von Minderjährigen in der katholischen Kirche, die vom 6. bis 9. Februar in Rom stattfindet. Veranstalter ist die renommierteste Universität der Stadt: Die von Jesuiten geführte „Gregoriana“. Unterstützt wird die Tagung von der Erzdiözese München, anderen Diözesen und einigen deutschen Hilfswerken.

„Wir wollen, dass den Opfern eine Stimme gegeben wird“, sagt Hans Zollner, Psychologie-Professor an der Gregoriana und Mitorganisator der Konferenz mit dem Titel „Auf dem Weg zu Heilung und Erneuerung“. Das Ziel der Tagung sei es, „mehr Aufmerksamkeit für das Thema in der weltweiten Kirche zu schaffen“. Es müsse deutlich werden, „dass man nicht einfach abwarten darf, wenn es um eine Vorbeugung sexuellen Missbrauchs geht, sondern selbst aktiv werden muss“, erläutert der deutsche Jesuitenpater und akademische Vizerektor der Gregoriana. Die Konferenz wolle deshalb vor allem den Erfahrungsaustausch über geeignete Maßnahmen zu Vorbeugung von sexuellem Missbrauch fördern.

Die Resonanz auf die Tagung ist außergewöhnlich: Nahezu alle nationalen Bischofskonferenzen entsenden einen bischöflichen Vertreter zu der Tagung, zumeist den jeweiligen Missbrauchsbeauftragten. Hinzu kommen Obere katholischer Orden sowie Fachleute, etwa Psychologen und Kirchenrechtler; insgesamt nehmen rund 220 Personen an der Tagung teil. Aus Österreich reist der St. Pöltner Diözesanbischof Klaus Küng an.

Die österreichischen Bischöfe haben im Jahr 2010 eigene Richtlinien für Ahndung und Vorbeugung sexuellen Missbrauchs in der Kirche veröffentlicht. Doch längst nicht alle Bischofskonferenzen haben bislang eigene Vorgaben erlassen. Für die Bischöfe dieser Länder bietet die Tagung die Möglichkeit, sich Anregungen und Hilfestellungen für ein solches Regelwerk geben zu lassen. Denn bis zum Mai 2012 müssen alle Bischofskonferenzen eigene Richtlinien für den Umgang mit sexuellem Missbrauch veröffentlicht haben. Diese Frist hatte die vatikanische Glaubenskongregation in einem Rundschreiben vom vergangenen Mai gesetzt. Zu diesem Zeitpunkt waren jene Ortskirchen, die eigene Vorgaben veröffentlicht hatten, noch die Ausnahme. Nicht nur in Afrika und Asien gibt es auf diesem Feld noch einiges zu tun, auch die Italienische Bischofskonferenz hat bislang noch keine Richtlinien veröffentlicht.

Aus dem Vatikan hat sich hoher Besuch zur Konferenz angesagt: Der Leiter der Glaubenskongregation, Kardinal William Joseph Levada, spricht zu den Teilnehmern über Maßnahmen zur Vorbeugung und Ahndung von sexuellem Missbrauch. Seiner Behörde müssen alle Missbrauchsfälle der Weltkirche gemeldet werden. Die Berichte gehen über den Schreibtisch des „Chefanklägers“ der Glaubenskongregation, Charles Scicluna; auch er trägt auf der Konferenz vor.

Die Ergebnisse der Tagung sollen möglichst Vielen zugänglich gemacht werden und in die Entwicklung eines Internetportals einfließen, das längerfristig für die ganze Weltkirche Informationen über den Umgang mit Missbrauchsfällen online bereitstellen soll. Die auf drei Jahre angelegte Entwicklung dieses „Zentrums für Kinderschutz“ der Gregoriana (www.elearning-childprotection.com) wird in Kooperation mit dem Universitätsklinikum Ulm durchgeführt.

Papst Benedikt XVI. hat die Missbrauchsfälle als „offene Wunde der Kirche“ bezeichnet. Ganz ausrotten könne auch die beste Prävention sexuellen Missbrauch innerhalb der katholischen Kirche – wie in der Gesellschaft insgesamt – nicht, sagt Zollner. „Aber wir wollen mit der Konferenz einen Beitrag dazu leisten, dass diese ‚offene Wunde‘ besser und schneller heilen kann.“

Quelle: kathweb – http://www.kathweb.at/site/nachrichten/database/44652.html

20.08.2011 – Frankfurter Rundschau – FR-Serie: Welt im Wandel – Die Unordnung der Dinge

Die Welt ändert sich mit jedem Tag. Die Turbulenzen sind mit Herausforderungen und Zumutungen verbunden. Wie reagiert der Mensch auf die Irritation? Der Schriftsteller und Historiker Philipp Blom analysiert unsere „Welt im Wandel“.

Es ist eine fast banale historische Wahrheit, dass die Geschichte sich beschleunigt. In diesen Wochen ist das deutlicher denn je. Der arabische Frühling revolutioniert eine ganze Weltregion, das globale Machtgefüge hat sich innerhalb weniger Generationen völlig verschoben (noch bis vor dem Zweiten Weltkrieg regierte Großbritannien ein Drittel der Welt) und verändert sich weiter. Wissenschaft, Technologie und Unterhaltungsindustrie schaffen eine Lebenswelt der galoppierenden Veränderung.

Das Informationsvolumen, das ein heutiger Mensch an einem einzigen Tag aufnimmt, ist wahrscheinlich größer als alles, was Landbewohner vor einigen Jahrhunderten in ihrem Leben kennenlernten. In einer Tageszeitung stehen mehr Fakten, als ein Mensch des achtzehnten Jahrhunderts bis zu seinem Tod erfuhr, und auf der Fifth Avenue in New York, auf den Champs-Elysées in Paris oder auf der Shiyuba-Kreuzung in Tokio sieht man an einem gewöhnlichen Mittag mehr Menschen, als unsere Vorfahren je zu Gesicht bekamen.

Das Tosen der Fakten

Das Tosen der Fakten um uns herum wird durch Entertainment geschickt und kommerziell kanalisiert oder ausgeblendet und im Cyberspace eröffnen sich noch einmal neue Möglichkeiten sich zu informieren oder in Chatrooms und Games gleich neu zu erfinden. Eine der Konsequenzen dieses explosiven Anstiegs von Information und Entertainment ist das kognitive Hintergrundrauschen einer hochtechnisierten Zivilisation auf das Leben von Primaten, die nicht dafür evolviert sind und die diese Entwicklung innerhalb weniger Generationen physisch und psychisch unvorbereitet trifft – uns selbst.

Noch vor dreihundert Generationen (also etwa sechstausend Jahren) jagten die meisten unserer Vorfahren in kleinen Gruppen oder lebten in primitiven Dörfern, vor sechs Generationen gab es noch weder Strom noch Fotografie oder Eisenbahnen, heute geht man davon aus, dass sich das Faktenwissen der Naturwissenschaften in jedem Jahrzehnt verdoppelt und allein in Deutschland werden 100000 Bücher pro Jahr veröffentlicht. Die Wahrnehmung von Wandel hängt nicht von seiner tatsächlichen Geschwindigkeit ab, sondern davon, wie tief er in das Leben der Menschen eingreift und wie groß ihre intellektuelle und emotionale Aufnahmefähigkeit für diese Veränderungen sind.

Trotz römischer Eroberung und Christianisierung bestimmten starke Kontinuitäten über Jahrhunderte das Leben der ländlichen Mehrheit in Europa. Die Pestepidemie 1348 veränderte das Gesicht der Gesellschaften radikal und gab den Anstoß zu einem Umdenken, das in die Renaissance mündete. Dennoch, trotz Renaissance, Reformation und Gegenreformation, trotz fürchterlicher Kriege und der Entdeckung neuer Kontinente lebten viele Menschen vor der Französischen Revolution nicht wesentlich anders, als es Generationen vor ihnen getan hatten. Dann aber ging es Schlag auf Schlag in eine neue, kapitalistische, durch Industrie, Technologie und Standardisierung geprägte urbane Welt: die Revolution, die napoleonischen Kriege (und das Gedankengut, was die Besatzer brachten), die Revolutionen 1848, der Kolonialismus und der Innovations- und Industrialisierungsschub der Gründerzeit, der rauschhafte Taumel der Erneuerung vor 1914.

Gerade am Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts war es nicht nur die technologische Durchdringung einer immer stärker urbanisierten und geplanten Welt sondern (auch dadurch verursacht) besonders die Verschiebung im Geschlechterverhältnis, die immer wieder als schwindelerregend rasch und von Männern oft auch als bedrohlich wahrgenommen wurde. Wer in die Stadt kam, war per Definition entwurzelt und musste sich eine neue Identität konstruieren. Da Arbeiterfamilien nicht von einem Lohn allein leben konnten, waren auch die Frauen meist gezwungen, einen Job anzunehmen und begannen, wie etwa die Textilarbeiterinnen in Nordengland, sich energisch für ihre Rechte, für Geburtenkontrolle, Gleichbehandlung, Mädchenerziehung und für das universelle Wahlrecht einzusetzen. Das Verhältnis zwischen Männern und Frauen, deren Eltern noch ein Leben geführt hatten, das ihren fernen Vorfahren wesentlich ähnlicher war, als dem ihrer Kinder, hatte sich unwiderruflich verschoben.

Seite 2: Warum wir zur Zivilisation ohne Zukunftsvisionen wurden

Quelle: Frankfurter Rundschau –  http://www.fr-online.de/kultur/die-unordnung-der-dinge/-/1472786/9555610/-/index.html

In den Familien der Mittelschicht drückte sich diese Verschiebung anders aus. Die Erfindung des Fahrrads zeigt, wie in diesem Prozess technologische und moralische Faktoren ineinandergriffen. Fahrräder brachten jungen Frauen, die oft unter ständiger Aufsicht lebten, eine ganz neue Freiheit und ein ganz neues Körpergefühl, zumal die sportliche Betätigung dazu verleitete, das Korsett abzulegen und bequeme Reformkleidung anzulegen.

Begleitet von den düsteren Prognosen männlicher Ärzte, die vorhersagten, der Kontakt mit dem Fahrradsattel würde Frauen in einen Zustand dauernder sexueller Überstimulation versetzen und ihnen bleibenden Schaden zufügen, radelte eine ganze Generation von Mädchen augenscheinlich ohne Schäden einem neuen Rollenverständnis entgegen.

Sexuelle Identitäten um 1910

Die Veränderung der Jahre um 1910 hatte besonders sexuelle Identitäten zum Angelpunkt. Männer mussten selbst ein neues Rollenmodell definieren, eine neue Männlichkeit. Hunderttausende scheiterten daran, wie die Welle der Neurastheniker bezeugt, der (überwiegend männlichen) Nervenpatienten, deren Akten immer wieder Gefühle der sexuellen Minderwertigkeit und Angst widerspiegeln, aber viele nutzten auch die neuen Freiheiten oder suchten ihr Heil in einer traditionell martialischen Männlichkeit der Schnurrbärte und Uniformen. Nie zuvor wurden so viele Duelle ausgetragen wie kurz vor 1914.

Der Wandel der Jetztzeit betrifft ebenfalls unser tiefstes Selbstverständnis und ruft ähnliche Fluchtreaktionen hervor, wenn auch der Kern dieser Wandlung weniger das sexuelle als das soziale und kulturelle Selbstverständnis prägt. Keine Politikerin die, kein Politiker der nicht wüsste, wie sehr die Zeit drängt und trotzdem, vielleicht gerade deswegen, herrscht kulturelle und soziale Stagnation. Der Cyberspace wird zum Refugium für virtuelle Beziehungen, Linksparteien – früher Motoren gesellschaftlicher Reformen – sind zu konservativen Kräften geworden. Es geht darum, nicht loszulassen, was man glaubt, einmal zu besitzen.

Noch halb betäubt vom Scheitern der großen Ideologien und überfordert von den anstehenden Entscheidungen sind wir zur Zivilisation ohne Zukunftsvision geworden. Renten und Gesundheitssystem, Klima und Energieversorgung, internationale Machtgefüge, Überbevölkerung und Überschuldung: Jede Veränderung ist Verschlechterung.

Unsere Gesellschaften scheinen längst resigniert zu haben vor der Notwendigkeit, die Umwälzungen der Welt mitzusteuern. Zwar hat die deutsche Regierung mit sicherem, populistischen Reflex plötzlich gegen die Kernkraft optiert – in anderen, weniger medienwirksamen Fragen aber herrscht Erstarrung. Die EU – die einzige Chance für die europäischen Länder in einer Welt, in der 2100 nur noch 5% der Menschen Europäer sein werden – wirkt weitgehend handlungsunfähig, der Euro ist in Gefahr weil die Europäer nicht den Mut haben, das Unausweichliche zu begreifen, dass nämlich zwischen so unterschiedlichen Wirtschaftsräumen eine Währungsunion ohne politische Union nicht möglich ist.

Festung der Ängstlichen

Europa ist zur Festung der ängstlichen Begüterten geworden, die Flüchtlinge aus Afrika (die kein Ghaddafi mehr zurück in die Wüste schickt) lieber zu Hunderten im Mittelmeer ertrinken lässt, als es sich mit dem eigenen Wahlvolk zu verscherzen. Gleichzeitig geht ein Gutteil unserer kulturellen Energien dahin, die große Vergangenheit aufzubereiten und zu kommerzialisieren, die intellektuelle und künstlerische Gegenwart ist bestimmt von musealen Riten, konservatorischen Bedenken und der lärmenden Leere einer hochsubventionierten Avantgarde, die ihre schöpferische Armut und mit kokett nihilistischer Geste verschleiert.

Die dominanten intellektuellen Diskurse teilen die Vorsilbe „Post“, ganz so, als hätten wir uns zwischen Postdemokratie, Poststrukturalismus, Postmoderne, Postkolonialismus, Postfeminismus und Postkapitalismus mit der Rolle eines Nachtrags auf unsere eigene Kultur abgefunden. Von jetzt ab kommt nichts Neues mehr. Der Wandel vollzieht sich dabei längst ohne uns, mit jedem Tag schneller und weniger beeinflussbar. Die Beschleunigung der Geschichte ist nicht aufzuhalten. Wenn sie nicht gelenkt und genutzt wird, bleibt von Europa nichts als eine Landzunge im Westen Asiens, die gegen ein angemessenes Eintrittsgeld besichtig werden kann von den Bürgern einer neuen Weltordnung.

Wir brauchen kein Disneyland Paris und keinen europäischen Snobismus gegenüber einer globalen Kommerzkultur, wir zimmern längst am Disneyland Europe, einem historischen Themenpark mit eigener Währung.

Quelle: Frankfurter Rundschau – http://www.fr-online.de/kultur/die-unordnung-der-dinge/-/1472786/9555610/-/item/1/-/index.html

 

Zur Sache

Philipp Blom, Jg. 1970, lebt heute als Schriftsteller, Übersetzer und Journalist in Wien. Stark beachtet wurden auch seine letzten Bücher „Der taumelnde Kontinent. Europa 1900 – 1914“ (Hanser 2009) und „Böse Philosophen: Ein Salon in Paris und das vergessene Erbe der Aufklärung“ (Hanser 2011).

So viel Wandel war nie: Klimawandel, demographischer Wandel, Wertewandel. Die Schlagworte des Wechsels tauchen ständig in den Medien auf, werden von Politik und Wissenschaft diskutiert. Doch erleben wir tatsächlich historische Umbrüche oder dramatisieren wir nur den Gang der Geschichte, um als Zeitgenossen einer großen Epoche da zustehen? Auf diese Frage haben Wissenschaftler und Intellektuelle Antworten gesucht und in Essays für die Frankfurter Rundschau und das Nordwestradio aufgeschrieben. Wir veröffentlichen ihre Beiträge von heute an auf den Meinungsseiten und im Feuilleton der FR unter dem Titel „Die Unordnung der Dinge – Welt im Wandel“. Es erscheinen u.a. Texte von Dirk Baecker, Jens Reich, Claudia Kemfert, Claus Leggewie.

Quelle: Frankfurter Rundschau – http://www.fr-online.de/kultur/die-unordnung-der-dinge/-/1472786/9555610/-/item/1/-/index.html