24.04.2014 – Zeit Online – Scheidungskinder: Glück. Gehabt

Scheidungskinder
Glück. Gehabt

Die Scheidungskinder der siebziger Jahre haben heute selbst Familie. Machen sie es besser als ihre Eltern?

von Matthias Kalle und Tanja Stelzer

Meistens klingt es nach Verständnis, manchmal nach später Bestätigung, immer nach Resignation. „Er ist halt ein Scheidungskind“, „Sie hatte ja nie eine richtige Familie“ – wie oft hören wir solche Erklärungen, wenn sich ein Paar aus unserem Freundeskreis trennt. „Scheidungskind“, dieses Wort scheint zu erklären, warum es unmöglich ist, mit diesem Menschen eine Beziehung zu führen. Weil er nie das Streiten gelernt hat. Weil er Konflikte vermeidet, keine Gefühle zeigen kann. Weil der Platz zwischen den Stühlen seiner ist. Weil er nicht weiß, wie Ehe funktioniert.

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27.02.2012 – The European – Wir nennen es Generationenvertrag

Natürlich müssen Kinderlose mehr in die sozialen Sicherungen investieren. Schließlich brauchen wir das Humankapital der Familien.

Dürfen wir Kinderlose höher zur Kasse bitten als Eltern, die selbst Kinder großziehen? Ja, dürfen wir. Denn ohne diese Kinder der nächsten Generation brechen alle unsere sozialen Sicherungssysteme zusammen. Es profitiert also die ganze Gesellschaft – warum also sollten die Eltern einseitig die Kosten des Systems tragen, den profitablen Nutzen aber mit den Kinderlosen teilen?

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20.08.2011 – Frankfurter Rundschau – FR-Serie: Welt im Wandel – Die Unordnung der Dinge

Die Welt ändert sich mit jedem Tag. Die Turbulenzen sind mit Herausforderungen und Zumutungen verbunden. Wie reagiert der Mensch auf die Irritation? Der Schriftsteller und Historiker Philipp Blom analysiert unsere „Welt im Wandel“.

Es ist eine fast banale historische Wahrheit, dass die Geschichte sich beschleunigt. In diesen Wochen ist das deutlicher denn je. Der arabische Frühling revolutioniert eine ganze Weltregion, das globale Machtgefüge hat sich innerhalb weniger Generationen völlig verschoben (noch bis vor dem Zweiten Weltkrieg regierte Großbritannien ein Drittel der Welt) und verändert sich weiter. Wissenschaft, Technologie und Unterhaltungsindustrie schaffen eine Lebenswelt der galoppierenden Veränderung.

Das Informationsvolumen, das ein heutiger Mensch an einem einzigen Tag aufnimmt, ist wahrscheinlich größer als alles, was Landbewohner vor einigen Jahrhunderten in ihrem Leben kennenlernten. In einer Tageszeitung stehen mehr Fakten, als ein Mensch des achtzehnten Jahrhunderts bis zu seinem Tod erfuhr, und auf der Fifth Avenue in New York, auf den Champs-Elysées in Paris oder auf der Shiyuba-Kreuzung in Tokio sieht man an einem gewöhnlichen Mittag mehr Menschen, als unsere Vorfahren je zu Gesicht bekamen.

Das Tosen der Fakten

Das Tosen der Fakten um uns herum wird durch Entertainment geschickt und kommerziell kanalisiert oder ausgeblendet und im Cyberspace eröffnen sich noch einmal neue Möglichkeiten sich zu informieren oder in Chatrooms und Games gleich neu zu erfinden. Eine der Konsequenzen dieses explosiven Anstiegs von Information und Entertainment ist das kognitive Hintergrundrauschen einer hochtechnisierten Zivilisation auf das Leben von Primaten, die nicht dafür evolviert sind und die diese Entwicklung innerhalb weniger Generationen physisch und psychisch unvorbereitet trifft – uns selbst.

Noch vor dreihundert Generationen (also etwa sechstausend Jahren) jagten die meisten unserer Vorfahren in kleinen Gruppen oder lebten in primitiven Dörfern, vor sechs Generationen gab es noch weder Strom noch Fotografie oder Eisenbahnen, heute geht man davon aus, dass sich das Faktenwissen der Naturwissenschaften in jedem Jahrzehnt verdoppelt und allein in Deutschland werden 100000 Bücher pro Jahr veröffentlicht. Die Wahrnehmung von Wandel hängt nicht von seiner tatsächlichen Geschwindigkeit ab, sondern davon, wie tief er in das Leben der Menschen eingreift und wie groß ihre intellektuelle und emotionale Aufnahmefähigkeit für diese Veränderungen sind.

Trotz römischer Eroberung und Christianisierung bestimmten starke Kontinuitäten über Jahrhunderte das Leben der ländlichen Mehrheit in Europa. Die Pestepidemie 1348 veränderte das Gesicht der Gesellschaften radikal und gab den Anstoß zu einem Umdenken, das in die Renaissance mündete. Dennoch, trotz Renaissance, Reformation und Gegenreformation, trotz fürchterlicher Kriege und der Entdeckung neuer Kontinente lebten viele Menschen vor der Französischen Revolution nicht wesentlich anders, als es Generationen vor ihnen getan hatten. Dann aber ging es Schlag auf Schlag in eine neue, kapitalistische, durch Industrie, Technologie und Standardisierung geprägte urbane Welt: die Revolution, die napoleonischen Kriege (und das Gedankengut, was die Besatzer brachten), die Revolutionen 1848, der Kolonialismus und der Innovations- und Industrialisierungsschub der Gründerzeit, der rauschhafte Taumel der Erneuerung vor 1914.

Gerade am Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts war es nicht nur die technologische Durchdringung einer immer stärker urbanisierten und geplanten Welt sondern (auch dadurch verursacht) besonders die Verschiebung im Geschlechterverhältnis, die immer wieder als schwindelerregend rasch und von Männern oft auch als bedrohlich wahrgenommen wurde. Wer in die Stadt kam, war per Definition entwurzelt und musste sich eine neue Identität konstruieren. Da Arbeiterfamilien nicht von einem Lohn allein leben konnten, waren auch die Frauen meist gezwungen, einen Job anzunehmen und begannen, wie etwa die Textilarbeiterinnen in Nordengland, sich energisch für ihre Rechte, für Geburtenkontrolle, Gleichbehandlung, Mädchenerziehung und für das universelle Wahlrecht einzusetzen. Das Verhältnis zwischen Männern und Frauen, deren Eltern noch ein Leben geführt hatten, das ihren fernen Vorfahren wesentlich ähnlicher war, als dem ihrer Kinder, hatte sich unwiderruflich verschoben.

Seite 2: Warum wir zur Zivilisation ohne Zukunftsvisionen wurden

Quelle: Frankfurter Rundschau –  http://www.fr-online.de/kultur/die-unordnung-der-dinge/-/1472786/9555610/-/index.html

In den Familien der Mittelschicht drückte sich diese Verschiebung anders aus. Die Erfindung des Fahrrads zeigt, wie in diesem Prozess technologische und moralische Faktoren ineinandergriffen. Fahrräder brachten jungen Frauen, die oft unter ständiger Aufsicht lebten, eine ganz neue Freiheit und ein ganz neues Körpergefühl, zumal die sportliche Betätigung dazu verleitete, das Korsett abzulegen und bequeme Reformkleidung anzulegen.

Begleitet von den düsteren Prognosen männlicher Ärzte, die vorhersagten, der Kontakt mit dem Fahrradsattel würde Frauen in einen Zustand dauernder sexueller Überstimulation versetzen und ihnen bleibenden Schaden zufügen, radelte eine ganze Generation von Mädchen augenscheinlich ohne Schäden einem neuen Rollenverständnis entgegen.

Sexuelle Identitäten um 1910

Die Veränderung der Jahre um 1910 hatte besonders sexuelle Identitäten zum Angelpunkt. Männer mussten selbst ein neues Rollenmodell definieren, eine neue Männlichkeit. Hunderttausende scheiterten daran, wie die Welle der Neurastheniker bezeugt, der (überwiegend männlichen) Nervenpatienten, deren Akten immer wieder Gefühle der sexuellen Minderwertigkeit und Angst widerspiegeln, aber viele nutzten auch die neuen Freiheiten oder suchten ihr Heil in einer traditionell martialischen Männlichkeit der Schnurrbärte und Uniformen. Nie zuvor wurden so viele Duelle ausgetragen wie kurz vor 1914.

Der Wandel der Jetztzeit betrifft ebenfalls unser tiefstes Selbstverständnis und ruft ähnliche Fluchtreaktionen hervor, wenn auch der Kern dieser Wandlung weniger das sexuelle als das soziale und kulturelle Selbstverständnis prägt. Keine Politikerin die, kein Politiker der nicht wüsste, wie sehr die Zeit drängt und trotzdem, vielleicht gerade deswegen, herrscht kulturelle und soziale Stagnation. Der Cyberspace wird zum Refugium für virtuelle Beziehungen, Linksparteien – früher Motoren gesellschaftlicher Reformen – sind zu konservativen Kräften geworden. Es geht darum, nicht loszulassen, was man glaubt, einmal zu besitzen.

Noch halb betäubt vom Scheitern der großen Ideologien und überfordert von den anstehenden Entscheidungen sind wir zur Zivilisation ohne Zukunftsvision geworden. Renten und Gesundheitssystem, Klima und Energieversorgung, internationale Machtgefüge, Überbevölkerung und Überschuldung: Jede Veränderung ist Verschlechterung.

Unsere Gesellschaften scheinen längst resigniert zu haben vor der Notwendigkeit, die Umwälzungen der Welt mitzusteuern. Zwar hat die deutsche Regierung mit sicherem, populistischen Reflex plötzlich gegen die Kernkraft optiert – in anderen, weniger medienwirksamen Fragen aber herrscht Erstarrung. Die EU – die einzige Chance für die europäischen Länder in einer Welt, in der 2100 nur noch 5% der Menschen Europäer sein werden – wirkt weitgehend handlungsunfähig, der Euro ist in Gefahr weil die Europäer nicht den Mut haben, das Unausweichliche zu begreifen, dass nämlich zwischen so unterschiedlichen Wirtschaftsräumen eine Währungsunion ohne politische Union nicht möglich ist.

Festung der Ängstlichen

Europa ist zur Festung der ängstlichen Begüterten geworden, die Flüchtlinge aus Afrika (die kein Ghaddafi mehr zurück in die Wüste schickt) lieber zu Hunderten im Mittelmeer ertrinken lässt, als es sich mit dem eigenen Wahlvolk zu verscherzen. Gleichzeitig geht ein Gutteil unserer kulturellen Energien dahin, die große Vergangenheit aufzubereiten und zu kommerzialisieren, die intellektuelle und künstlerische Gegenwart ist bestimmt von musealen Riten, konservatorischen Bedenken und der lärmenden Leere einer hochsubventionierten Avantgarde, die ihre schöpferische Armut und mit kokett nihilistischer Geste verschleiert.

Die dominanten intellektuellen Diskurse teilen die Vorsilbe „Post“, ganz so, als hätten wir uns zwischen Postdemokratie, Poststrukturalismus, Postmoderne, Postkolonialismus, Postfeminismus und Postkapitalismus mit der Rolle eines Nachtrags auf unsere eigene Kultur abgefunden. Von jetzt ab kommt nichts Neues mehr. Der Wandel vollzieht sich dabei längst ohne uns, mit jedem Tag schneller und weniger beeinflussbar. Die Beschleunigung der Geschichte ist nicht aufzuhalten. Wenn sie nicht gelenkt und genutzt wird, bleibt von Europa nichts als eine Landzunge im Westen Asiens, die gegen ein angemessenes Eintrittsgeld besichtig werden kann von den Bürgern einer neuen Weltordnung.

Wir brauchen kein Disneyland Paris und keinen europäischen Snobismus gegenüber einer globalen Kommerzkultur, wir zimmern längst am Disneyland Europe, einem historischen Themenpark mit eigener Währung.

Quelle: Frankfurter Rundschau – http://www.fr-online.de/kultur/die-unordnung-der-dinge/-/1472786/9555610/-/item/1/-/index.html

 

Zur Sache

Philipp Blom, Jg. 1970, lebt heute als Schriftsteller, Übersetzer und Journalist in Wien. Stark beachtet wurden auch seine letzten Bücher „Der taumelnde Kontinent. Europa 1900 – 1914“ (Hanser 2009) und „Böse Philosophen: Ein Salon in Paris und das vergessene Erbe der Aufklärung“ (Hanser 2011).

So viel Wandel war nie: Klimawandel, demographischer Wandel, Wertewandel. Die Schlagworte des Wechsels tauchen ständig in den Medien auf, werden von Politik und Wissenschaft diskutiert. Doch erleben wir tatsächlich historische Umbrüche oder dramatisieren wir nur den Gang der Geschichte, um als Zeitgenossen einer großen Epoche da zustehen? Auf diese Frage haben Wissenschaftler und Intellektuelle Antworten gesucht und in Essays für die Frankfurter Rundschau und das Nordwestradio aufgeschrieben. Wir veröffentlichen ihre Beiträge von heute an auf den Meinungsseiten und im Feuilleton der FR unter dem Titel „Die Unordnung der Dinge – Welt im Wandel“. Es erscheinen u.a. Texte von Dirk Baecker, Jens Reich, Claudia Kemfert, Claus Leggewie.

Quelle: Frankfurter Rundschau – http://www.fr-online.de/kultur/die-unordnung-der-dinge/-/1472786/9555610/-/item/1/-/index.html