24.04.2014 – Zeit Online – Scheidungskinder: Glück. Gehabt

Scheidungskinder
Glück. Gehabt

Die Scheidungskinder der siebziger Jahre haben heute selbst Familie. Machen sie es besser als ihre Eltern?

von Matthias Kalle und Tanja Stelzer

Meistens klingt es nach Verständnis, manchmal nach später Bestätigung, immer nach Resignation. „Er ist halt ein Scheidungskind“, „Sie hatte ja nie eine richtige Familie“ – wie oft hören wir solche Erklärungen, wenn sich ein Paar aus unserem Freundeskreis trennt. „Scheidungskind“, dieses Wort scheint zu erklären, warum es unmöglich ist, mit diesem Menschen eine Beziehung zu führen. Weil er nie das Streiten gelernt hat. Weil er Konflikte vermeidet, keine Gefühle zeigen kann. Weil der Platz zwischen den Stühlen seiner ist. Weil er nicht weiß, wie Ehe funktioniert.

„Scheidungskind“ – das Wort, das wir immer gehasst haben. Ein paar Jahre lang hatten wir, die Autoren dieser Geschichte, es fast vergessen. Es schien keine Bedeutung mehr zu haben, wir waren erwachsen, wir hatten unsere eigenen Beziehungen, wir bekamen eigene Kinder. Aber das Wort ist noch da. Es bedeutet: Manche Menschen sind Träger des Scheidungsgens, das sich von Generation zu Generation vererbt. Wir werden es nie los, wir Scheidungskinder.

Es ärgert uns. Vielleicht weil Wahrheit darin steckt. Unsere Freunde liegen ja nicht ganz falsch. Ja, mit Streit können wir nicht so gut. Ja, wir haben Mühe, in der Liebe das richtige Tempo zu finden, wir lassen uns zu schnell auf jemanden ein oder gar nicht. Ja, wir sind so – wenn wir es uns nicht selbst austreiben.

Wir gehören zur ersten großen Welle von Scheidungskindern. In den siebziger Jahren, der Zeit unserer Kindheit, entdeckten die Frauen die Freiheit. Mütter mussten damals nicht mal echte 68er sein, damit Scheidung eine Option für sie war. Das neue Eherecht vereinfachte seit 1977 die Trennung, das persönliche Glück wurde wichtiger als die gesellschaftliche Konvention.

Unsere Mütter waren Avantgarde, und das war nicht einfach, weder für unsere Mütter noch für uns. Wir litten unter der Trennung unserer Eltern, natürlich. Die einen mehr, die anderen weniger, für manche war es sogar eine Erlösung. Für uns alle gleich aber war, dass es damals um uns herum tuschelte: „Scheidungskind“, Zischlaut und „i“ wie igitt – Mitleid und Herablassung hielten sich die Waage. Obwohl Scheidung heute kein Stigma mehr ist (aber offenbar trotzdem ein Grund, uns zu beurteilen), achten wir noch immer genau darauf, welche Reaktionen wir bei unserem Gegenüber hervorrufen, wenn wir unseren familiären Hintergrund erwähnen.

Wir mögen als Kinder viel Energie darauf verwendet haben, zu demonstrieren, dass wir trotz getrennter Eltern ganz normal sind, dass wir gut in der Schule sein und sogar ordentlich mit Messer und Gabel essen können. Trotzdem betrachteten wir so befremdet wie sehnsuchtsvoll Fotos, die unsere Eltern zeigten, als sie noch zusammen waren. Für viele von uns ist es ein Ziel geblieben, selbst den einen Partner zu finden, mit dem wir möglichst ewig zusammenbleiben. Kaum ein erwachsenes Scheidungskind, das nicht diesen Ehrgeiz hätte: Ich will es besser machen (wobei „besser“ manchmal heißt: Bloß nicht heiraten!, als könnte einen die Abwesenheit eines Papiers, eines Rings vor irgendetwas bewahren). Dazu kommt häufig der Wunsch: Ich will, dass mein Kind es besser hat. Aber all die Anstrengung scheint oft direkt in den Misserfolg zu führen: Eine Menge erwachsener Trennungskinder sitzen jetzt beim Scheidungsanwalt – und ahnen, dass sie dort sitzen, weil sie selbst getrennte Eltern haben. Ihr Ehrgeiz, es besser zu machen mit der Liebe, hat sich verwandelt in den Ehrgeiz, es besser zu machen mit der Scheidung.

Anja (alle Namen von der Redaktion geändert), 36, ist Erzieherin und wohnt mit ihren beiden Kindern in einer Dreizimmerwohnung in Wiesbaden. In einem Zimmer schläft das Mädchen, 11, in einem der Junge, 13, im Wohnzimmer die Mutter, wenn die Kinder dort nicht gerade, wie jetzt, zu YouTube-Clips tanzen. So hat sich Anja das Leben mit ihrer Familie nie vorgestellt. Alles sollte ganz klassisch sein, alles sollte anders sein als damals. Anja erzählt:

––––– Ich war zwei, als meine Eltern sich trennten. Das Drama begann am 40. Geburtstag meines Vaters, 1979 war das. Nach der Geburtstagsparty hat mein Vater hinter dem Schrank einen Strauß Baccararosen entdeckt, in einer Vase. Die Rosen waren von unserem Nachbarn, und auf einmal war alles klar. Meine Mutter zog mit meiner Schwester und mir ein Haus weiter. Wir lebten Garten an Garten: meine Mutter und wir Kinder auf der einen Seite des Maschendrahtzauns, mein Vater auf der anderen. „Hallo, Papa!“, riefen wir. Und wenn mein Vater zum Zaun kam, keifte meine Mutter: „Lass die Kinder in Ruhe!“ Er durfte uns nicht über den Zaun heben. Von den Rosen und vom Maschendrahtzaun erzählt mein Vater noch heute. Es war die Demütigung seines Lebens.

Die Besuchsregel besagte, dass wir jedes zweite Wochenende bei ihm verbringen sollten. Ich habe mich aber oft gedrückt. Während meine Schwester ein Papakind war, hielt ich aus Solidarität zu meiner Mutter. „Judas“ sagte meine Mutter zu meiner Schwester. Ich verlor für Jahre den Bezug zu meinem Vater. Dass meine Mutter mich manipulierte, erkannte ich erst viel später, als ich die Scheidungsakte las. Es ging ihr immer ums Geld. Meine Mutter hatte sich beschwert, dass mein Vater ständig gearbeitet hat. Es stimmt, er war kein Familienmensch. Aber sie hat gewusst, wen sie geheiratet hat. Man kann nicht sagen: Ich heirate einen Boss, und hinterher beschwert man sich, dass er sonntags nicht da ist.

Ich selbst habe mit 22 geheiratet. Wir waren gerade mal ein Jahr zusammen. Aber je mehr Leute sagten: Ihr seid so jung, desto mehr kam der Trotz: Wir werden’s euch beweisen! Heute ist mir klar, wir hätten nie heiraten dürfen. Wir hätten spätestens das zweite Kind nicht bekommen sollen, sosehr ich froh bin, dass es da ist. Ich wollte „Vater, Mutter, Kind“ spielen.

Die Erfahrung, getrennte Eltern zu haben, hat mein Leben beeinflusst. Dieses zwanghafte „Es muss doch funktionieren“ habe ich daher, außerdem eine Tendenz, meine Kinder unter eine Glasglocke zu stecken – die Glasglocke, die ich selbst gern gehabt hätte.

Anfangs kümmerte mein Mann sich rührend um die Kinder. Wenn er um vier von seiner Arbeit als Schlosser nach Hause kam, sagte er zu mir: Setz dich, trink einen Kaffee. Ich konnte mich ausruhen, und er hat den Kindern vorgelesen. Alles änderte sich, als ich wieder arbeiten ging, zehn Stunden die Woche nur, aber immerhin. Andere sagten: Toll, wie du das hinkriegst, mit zwei Kindern! Ich bekam Anerkennung. Außer von meinem Mann. Der sagte: Du machst dich ja nicht kaputt. Als ich mich von ihm getrennt habe, waren mein Junge und mein Mädchen so alt wie meine Schwester und ich damals. Im Ort sagten sie: Es wiederholt sich alles.

Mein Mann hatte dann kaum noch Zeit für die Kinder. Zu mir sagte er: Du wolltest ja die Trennung, jetzt sieh zu, wie du klarkommst. Das war seine Rache. In den ersten anderthalb Jahren hatte er sieben Freundinnen. Sie alle hat er unserem Sohn und unserer Tochter vorgestellt, damit ich davon erfahre. Wir haben gekämpft, und die Kinder steckten mittendrin, wie damals am Maschendrahtzaun. Wir können uns nicht auf die Schulter klopfen, dass wir es besser gemacht hätten als unsere Eltern. Jetzt endlich, seit mein Exmann noch einmal Vater geworden ist, geht es besser. –––––

Quelle: Zeit Online – http://www.zeit.de/zeit-magazin/2014/18/scheidungskinder-risiko-trennung

Scheidungskinder
Glück. Gehabt
Seite 2/4: Fachleute sprechen vom „transgenerationalen Risikotransfer“

Dass Ehen heute schnell geschieden werden, hat paradoxerweise damit zu tun, dass sie aus Liebe geschlossen werden. Die Liebesheirat ist historisch gesehen ein ziemlich neues Phänomen. Früher heiratete man aus finanziellen Gründen, zur Absicherung und schön brav innerhalb der vorgesehenen sozialen Schranken. Das war ein Zwang, der aber auch stabile Verbindungen produzierte. Die Trennung war die große Ausnahme, eine Katastrophe, die eine gesellschaftliche Vernichtung nach sich zog. Die Weltliteratur ist voll von Figuren, die darunter leiden: Fontanes Effi Briest, für die das Scheitern ihrer Ehe das Ende bedeutet. Ibsens Nora, die sich unter Qualen aus dem Puppenheim ihrer Heirat löst. Wir sind froh, dass solche Geschichten heute nicht mehr geschrieben werden müssen. Heute heiratet man aus Liebe, oder was man für Liebe hält. Bloß bedeutet das auch, dass man sich trennt, wenn die Liebe vorbei ist.

In Prenzlauer Berg, diesem Berliner Stadtteil, in dem angeblich das Ideal der heilen, modernen Familie gelebt wird, gibt es Grundschulen, an denen 80 Prozent der Kinder getrennte Eltern haben – Kinder der ersten Generation von Scheidungskindern. Und die haben es vielleicht leichter, schon weil es so viele von ihnen gibt. Auch ihre Eltern haben es leichter. Unzählige Helfer kümmern sich darum, dass sie und ihre Kinder diesen Schritt im Leben erfolgreich meistern, Ratgeberbücher erklären, wie man einem Kind die Scheidung schonend beibringt. Werden diese Kinder trotzdem wieder heiraten und wieder scheitern, sodass jede Generation mehr Jugendliche produziert, die später Experten sind im Zerstören von Beziehungen?

Eine große Alleinerziehendenstudie der Universität Düsseldorf kommt zu dem Ergebnis, dass alleinerziehende Mütter doppelt so häufig aus Scheidungsfamilien kommen wie Mütter, die in einer Partnerschaft leben beziehungsweise verheiratet sind. Eine amerikanische Untersuchung besagt, dass das Risiko noch einmal wesentlich höher ist, wenn beide Eltern aus einer Scheidungsfamilie kommen.

Ob man sich scheiden lässt, hängt, statistisch gesehen, noch von vielem anderen ab, wie Untersuchungen vermuten lassen: davon, aus welcher Schicht man stammt (ein niedriger sozioökonomischer Status vergrößert das Risiko, während sich das Bürgertum eher besser schlägt); davon, ob man seinen Partner in der Schule kennengelernt hat (was gut wäre) oder in der Kneipe (was schlecht wäre); davon, ob die Eheleute sich zusammen eine Eigentumswohnung angeschafft haben oder nicht (Besitz schützt).

Trotzdem ist es nicht wegzudiskutieren: Scheidungskinder trennen sich häufiger. Scheidung vererbt sich. Fachleute nennen das Phänomen einen „transgenerationalen Risikotransfer“. Das klingt nach einer hochgefährlichen Anlageform, nach einem Finanzprodukt, das keiner versteht und das mit großem Knall wie eine Spekulationsblase zerplatzt. Wer sich mit einem von uns Scheidungskindern einlässt, der geht eine Risikobeziehung ein. Auch wenn man sich über viele Jahre darüber hinwegtäuschen kann.

Ein Frühlingsabend in Berlin, ein Spaziergang an einem Kanal. Simone ist Ende 40 und war fast 25 Jahre lang mit ihrem Mann verheiratet. Gerade hat sie erfahren, dass der Scheidungstermin schon wieder verschoben wurde, weil die Anwälte keine Zeit haben, um vor Gericht zu erscheinen. Davon erzählt sie so, wie sie auch alles andere erzählt: zuversichtlich, ein bisschen kämpferisch, teilweise mit Trotz in der Stimme. Doch durch die Zuversicht, den Trotz schimmert Ratlosigkeit: Wie konnte das passieren? Simone erzählt:

––––– Irgendetwas war anders an meinem Mann, einige Tage schon, und dann, beim Abendessen, sagte er es mir. Er wolle sich trennen, ausziehen, es gehe nicht mehr. Er sprach ruhig, sachlich, es war ein gutes Gespräch. Das war im Herbst 2011, einige Monate vor unserer Silberhochzeit.

Ich war 21 Jahre alt, als ich meinen Mann geheiratet habe, ein Jahr davor waren wir zusammengekommen. Alles passte. Oder ich bildete es mir nur ein, vierundzwanzigdreiviertel Jahre lang.

Als sich meine Eltern scheiden ließen, war ich zwölf Jahre alt. Ich empfand die Trennung wie eine Erlösung. Meine Mutter hatte mich geschlagen, deshalb blieb ich bei meinem Vater. Im Prinzip begann für mich erst mit der Trennung meiner Eltern das, was man eine glückliche Kindheit nennt – davor hatte ich gelitten, vor allem unter meiner Mutter. Vielleicht habe ich mir damals mit zwölf schon vorgenommen, niemals so eine Mutter zu werden – und auch niemals so eine Ehe zu führen. Und als ich dann Mutter und Ehefrau war, habe ich versucht, alles zu vermeiden, was mich an meine eigene Kindheit hätte erinnern können. Sie war, wenn man so will, ereignislos, meine Eltern saßen sehr viel vor dem Fernseher, wir machten kaum Ausflüge – und zu Hause achteten sie nicht darauf, wie wir rumliefen. All das habe ich peinlichst versucht zu vermeiden: Der Fernseher lief kaum, wir waren alle so gekleidet, als ob jeden Moment Besuch kommen könnte, und wir haben viel unternommen. Wir sind spazieren gegangen, haben Ausflüge mit dem Rad gemacht, sind mit dem Wohnmobil verreist. Es war das Gegenprogramm zu der Ehe, die ich als Kind beobachten musste und die gescheitert ist – wahrscheinlich, damit meine Ehe nicht scheitert. Und ich dachte, ich hätte genau das geschafft.

Bis zu diesem Gespräch. Mein Mann sagte, er habe sich in eine Kollegin verliebt, und ich stellte mir Fragen: Was hat sie, was ich nicht habe? Bleibt er bei mir, wenn ich mich ändere? Schlimme Wochen waren das, Wochen der Unsicherheit, der Fragen, des Wartens. Einmal fuhr ich zu seiner Arbeit, ich wusste, dass er und seine Kollegen manchmal draußen Pause machen. Vom Auto aus beobachtete ich ihn und die Frau, und als ich sah, wie unscheinbar sie war, wie farblos, da wusste ich, dass das tatsächlich Liebe sein muss und nicht irgendein Abenteuer. Ich stieg aus, um mit ihr zu reden, und weiß heute nicht, ob das richtig war. Mein Mann fand es furchtbar.

Vielleicht war das der Moment, wo es kippte, denn aus meinem Mann, den ich so lange kannte und liebte, wurde plötzlich ein Mann, den ich nicht kannte und nicht mehr lieben wollte: ein bösartiger Mensch. Ein Fremder. Das war für mich damals so unbegreiflich – weil es auch während unserer gesamten Ehe keine Anzeichen dafür gab, dass etwas schieflief, dass er sich nach einem anderen Leben sehnte. Oder aber ich habe die Anzeichen nicht gesehen.

Ich habe lange gebraucht, um die Trennung zu verdauen. Ich habe Fehler bei mir gesucht, ich bin die Jahre unserer Ehe durchgegangen, um einen Grund zu finden. Ich habe sogar eine Therapie angefangen. Ich dachte: Wenn es etwas gibt, das ich korrigieren könnte, dann wäre es gut, das zu wissen. Allerdings habe ich keine Antworten auf meine Fragen gefunden. –––––

Warum Scheidungskinder sich oft in ihrem Partner täuschen, erklärt der Psychoanalytiker Matthias Franz, der die Düsseldorfer Alleinerziehendenstudie geleitet und ein Elterntraining entwickelt hat. Wir Menschen neigen dazu, die Bindungsmuster unserer Eltern zu reproduzieren. Und wir sind alle vom evolutionären Langzeitgedächtnis geprägt, von der Urerfahrung der Steinzeit. Damals war die Abwesenheit der Eltern für ein kleines Kind ein Todesurteil. Es verhungerte. Daher rührt es, dass Kinder noch heute alles tun, damit es ihren Eltern gut geht. Sie können die Vorstellung nicht ertragen, dass Eltern schlecht oder unsicher sein könnten. An einer Trennung der Eltern geben sie deshalb sich selbst die Schuld. Ihr Leitsatz lautet: „Ich hab’s nicht verhindert“ – und das versuchen sie bei der eigenen Partnerwahl wiedergutzumachen. Sie suchen intuitiv nach jemandem, der Mutter oder Vater ähnelt. Das Kind will sich als Erwachsener anstrengen, um den Fehler von damals zu reparieren. Vorschnell ist man überzeugt, den Menschen gefunden zu haben, mit dem das gelingt – und so beginnt eine Beziehung, die gar nicht auf Nähe zu dem anderen beruht, sondern auf einer Illusion von Nähe. Der generationsübergreifende Wiederholungszyklus ist in Gang gesetzt.

Abwesenheit – das ist die Grunderfahrung, die jedes Scheidungskind macht. Auf einmal gibt es eine Leerstelle im Leben, und die soll bitte wieder besetzt werden. Es ist tragisch, wenn ein Scheidungskind, das sich nichts mehr wünschte als eine eigene heile Familie, sich selbst wieder scheiden lässt. Aber natürlich wäre es auch zu einfach, das Vermeiden der Wiederholung mit Glück gleichzusetzen.

Quelle: Zeit Online – http://www.zeit.de/zeit-magazin/2014/18/scheidungskinder-risiko-trennung/seite-2

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Seite 3/4: Der größte Schutzfaktor ist die Wahl des richtigen Partners

Hannes ist Anfang 40. Er sitzt in einer Bar, vor sich ein Glas Rotwein, Zigaretten. Er spricht leise, er wägt die Worte ab: ein fast druckreifer Text, so als habe er ihn bereits für sich aufgeschrieben.

––––– Wahrscheinlich habe ich einfach kein Talent zum Glück, allerdings finde ich das auch nicht schlimm. Die Forderung, glücklich zu sein, wird doch oft von außen an uns herangetragen. Ich mache mir diesen Druck nicht. Ich kann mich nicht daran erinnern, dass ich in meinem Leben jemals glücklich war. Meine erste Erinnerung ist die an einen Zustand von Gleichgültigkeit. Ich war drei oder vier Jahre alt und spielte im Garten mit einem Ball. Ich warf oder schoss ihn aus Versehen zu den Nachbarn, deren Hund schnappte nach dem Ball, und mit einem Knall platzte er. Ich weinte nicht – es war mir egal. Ich drehte mich um und ging zurück ins Haus.

Ich war neun Jahre alt – ein stilles Kind ohne Freunde, aber ich glaube nicht, dass ich meinen Eltern jemals Anlass zur Sorge gab. Ich hörte auf sie und brachte gute Noten nach Hause. Dann kam der Tag, als meine Mutter mir sagte, dass mein Vater ausgezogen sei. „Wir werden uns scheiden lassen. Weißt du, was das heißt?“, fragte sie mich, und ich schüttelte den Kopf. „Das heißt, dass dein Vater und ich von nun an getrennte Wege gehen.“

Wenn meine Mutter mich von der Schule abholte, steckten die anderen Eltern die Köpfe zusammen. Meine Mutter reckte dann ihr Kinn noch etwas weiter nach oben als sonst. Sie war eine stolze, schöne Frau. Sie bewahrte ihre Würde, ich sah sie niemals weinen.

Alle zwei Wochen, immer sonntags, holte mich mein Vater ab. Er kam zur Mittagszeit, und wenn sein Auto auf die Einfahrt rollte, ging meine Mutter nach oben. Mein Vater hupte, und ich verließ das Haus. Dann gingen wir essen, und er stellte mir Fragen zur Schule. Danach gingen wir ins Kino, oder wir gingen spazieren. In den ersten Jahren wusste ich nicht einmal, wo er wohnte. Ich nahm alles, was mit mir passierte, hin, weil ich die Entscheidung, die meine Eltern getroffen hatten, nicht infrage stellte. Außerdem, so sah ich es damals, und so sehe ich es heute, mangelte es mir an nichts. Ich war viel allein, das schon. Aber das war ich vorher auch. Es hat mir nie etwas ausgemacht. Wahrscheinlich könnte man die Diagnose stellen, dass ich irgendetwas ganz tief in mir weggeschlossen habe. Aber selbst wenn: Warum sollte ich es hervorkramen?

Ich verliebte mich spät in Mädchen, sie interessierten mich erst mit 17, 18, aber auch dann verlor ich nicht den Verstand. Ich hatte Freundinnen, die sich nach ein paar Monaten wieder von mir trennten, weil ihnen etwas fehlte: ein wie auch immer geartetes Feuer, Hingabe, Leidenschaft, solche Sachen. Auch wenn diese Beziehungen flüchtig waren – fast immer hatte ich das Gefühl, die Mädchen bemühten sich doppelt, sobald ich ihnen sagte, dass ich ein Scheidungskind bin. So als ob man bei Scheidungskindern die Dosis an Liebe und Zuwendung erhöhen müsse.

Als ich 25 war, lernte ich meine spätere Frau kennen. Sie ist auch ein Scheidungskind, aber sie litt darunter. Umso erstaunter war sie, dass es Scheidungskinder gab, die dieses Schicksal einfach ertrugen. Sie erzählte mir viel von ihrer Traurigkeit, von ihren Verlustängsten. Und ich hörte zu. Aber nachfühlen konnte ich es nicht. Einmal sagte sie zu mir, ich hätte diesen Dämon besiegt. Ich lächelte und nickte, aber ich dachte: Welchen Dämon?

Wir verstehen uns gut, bis heute. Als unser zweiter Sohn geboren wurde, beschlossen wir zu heiraten. Zehn Jahre ist das jetzt her, danach haben wir noch zwei Kinder bekommen. Wir sind, das glaube ich, gute Eltern. Und wir sind, das hoffe ich, gut zueinander. Wir unterstützen uns. Das reicht mir. Es ist nicht mehr – aber es ist auch nicht weniger. Und es hält.

Ich denke, dass man Dinge einfach ertragen muss. Das Bild meiner stolzen Mutter, das Kinn nach oben – vielleicht ist das so etwas wie ein Leitbild für mich geworden. Sie hat es ausgehalten. Und ich halte das jetzt eben auch aus. –––––

Kann Aushalten wirklich eine Lösung sein? Und: Wie kommt man sonst raus aus der Wiederholungsschleife? Fachleute empfehlen Therapie, Psychoanalyse, Familienberatung. Das Gespräch mit Freunden. Sich klarwerden über das Erbe, das man mit sich herumträgt. Trauern um das, was nicht sein durfte. Aber das ist schwer und schmerzhaft – vor allem, wenn man von klein auf, wie im Fall von Hannes, seine Gefühle abgespalten hat, sie nicht zuließ, weil man damit niemandem auf die Nerven gehen wollte. Die Eltern waren schließlich genug mit sich selbst beschäftigt.

Wir Scheidungskinder sind zäh und anpassungsfähig. Wir haben schon in jungen Lebensjahren eine fundierte Diplomatenausbildung durchlaufen. All die Loyalitätskonflikte, all die Diskussionen: „Wer ist an Heiligabend wo?“, waren ein hartes Training. Uns zeichnet ein feines Gespür für die Bedürfnisse anderer aus. Ab und zu denken wir, das sei eine Eigenschaft, aus der sich was machen ließe. Das Problem: Mit Selbstlosigkeit, mit dem Zurückstellen der eigenen Gefühle kann man sich keine Beziehung erkaufen.

Und trotzdem haben wir eine Chance.

Die amerikanische Psychologin E. Mavis Hetherington hat zwanzig Jahre lang Scheidungsfamilien beobachtet – und auch die Biografien der Kinder aus diesen Familien ausgewertet. Sie ist zu dem Schluss gekommen, dass die Erbkrankheit Scheidung nicht zum Ausbruch kommen muss, wenn man eine ordentliche Prophylaxe betreibt. Es hilft, wenn man als Kind von erwachsenen Ratgebern etwas über Selbstachtung und -kontrolle lernen konnte. Es hilft, wenn man Freunde hat, die eine stabile Ehe führen und einem vorleben, wie das geht. Es hilft, spät zu heiraten, denn spät geschlossene Ehen halten länger. Der größte Schutzfaktor aber ist Hetherington – wie auch Matthias Franz – zufolge die Wahl des richtigen Partners, der genaue Blick, in wen man sich verliebt hat.

Manchmal verlieben sich auch zwei Scheidungskinder ineinander, und es ist ein großes Glück. Das kann gelingen, wenn beide erkannt haben, wie kostbar Beziehungen sind. Wenn es ihnen um den jeweils anderen geht und nicht darum, die Vergangenheit wettzumachen. Bis ein Scheidungskind so weit ist, braucht es möglicherweise mehrere Anläufe, wie im Fall von Andrea.

Quelle: Zeit Online – http://www.zeit.de/zeit-magazin/2014/18/scheidungskinder-risiko-trennung/seite-3

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Glück. Gehabt
Seite 4/4: Die Bedeutung der Familiengeschichte erkennen

Andrea, 41, ist vor zwei Monaten zum dritten Mal Mutter geworden. Ein unverhofftes Nachzüglerkind. Vor Kurzem ist sie mit ihrer Familie in ein eigenes Haus in Hamburg gezogen, gerade rechtzeitig vor der Geburt des Babys haben sie Platz für die gewachsene Familie geschaffen. Alles ist frisch gestrichen, im Wohnzimmer stapeln sich Krankenhausfotos des Neugeborenen. Der Junge, von Koliken geplagt, liegt während des Gesprächs in der Babywippe. Zwischendrin nimmt Andrea ihn immer wieder auf den Arm, wiegt ihn, stillt ihn. Sie lässt sich nicht beunruhigen. Andrea erzählt:

––––– Das Scheidenlassen – und das zweite Heiraten – liegt bei uns in der Familie. Meine Mutter ist geschieden und wieder verheiratet, meine Tante, meine Schwester, mein Vater, mein Großvater: Bei allen hat es mit der ersten Ehe nicht richtig geklappt, mit der zweiten dann aber schon oder jedenfalls besser. Vielleicht, denke ich mir, gehört es bei uns dazu, dass man es einmal versiebt – und dann beim zweiten Mal weiß, worauf es ankommt.

Dass meine erste Ehe nicht funktionieren würde, habe ich schon vier, fünf Wochen vor der Hochzeit geahnt. Da war es aber zu spät – ich hatte nicht den Mumm, das Fest abzusagen. Ich war 26, und es war eine wahnsinnige Feier, noch heute würde ich sagen: meine Traumhochzeit. Also wenn man jetzt mal unsere Beziehung beiseitelässt. Wir haben in einem Dom geheiratet, mit pompösem Blumenschmuck und vier Brautjungfern, danach: gesetztes Essen für 85 Leute auf einem Gutshof. Ich war vorher extra nach New York geflogen, um mir mein Brautkleid zu kaufen. Ich arbeitete damals bei einer Fluggesellschaft, deshalb konnte ich billig fliegen. Und das Geld für das Kleid hatte ich mir über Jahre zusammengespart. Ich hatte wirklich lange von so einer Prinzessinnenhochzeit geträumt.

Natürlich hat die Feier es nicht rausgerissen. Mein Exmann hat sich immer mehr von mir zurückgezogen. Er war unglücklich in seinem Job, aber darüber verlor er kein Wort. Und ich habe im Schichtdienst gearbeitet und am Wochenende noch in der Kneipe. Wir haben aneinander vorbeigelebt. Wenn er gegessen hat, dann beim Zeitunglesen, auf dem Fußboden liegend. Das wurde immer schlimmer. Wirklich kaputt ging unsere Beziehung an unserem ersten Hochzeitstag. Wir hatten Freunde zu Besuch, und da rückte er damit raus, wie schrecklich er seinen Job fand. Einer der Freunde sagte: „In Wirklichkeit kommt deine Unzufriedenheit doch daher, dass deine Frau ihren ehelichen Pflichten nicht nachkommt.“ Haushalt, Kinder, Sex, das meinte er. Für mich war diese Bemerkung ein Schlag ins Gesicht, und mein Exmann hat nichts dazu gesagt. Da wurde mir klar: Er denkt auch so, er steht nicht hinter mir. Der will eine Frau, die ihm Kinder gebiert und die Wäsche macht.

Kurz vor dem zweiten Hochzeitstag zog ich aus. Ich hatte auch einen neuen Mann kennengelernt. Eher eine Affäre, aber ich wusste: Diese Ehe ist nichts Wertvolles, für das man kämpfen sollte.

Der Mann, der einem keinen Raum lässt, ein neuer Partner, der Auslöser für die Trennung ist – erst heute fällt mir auf: Da hat sich die Geschichte meiner Mutter wiederholt. Auch sie war unglücklich mit meinem Vater, weil er ihr keinen Raum für das Leben gewährte, das sie sich wünschte. Sie war pharmazeutisch-technische Assistentin und wollte so gern Medizin studieren, aber davon hielt er nichts. Als ich etwa drei war, lernte sie einen Mann kennen, der Biochemiker war und ihr sagte: Du kannst das! Mach das! Er wurde – nach einer jahrelangen Affäre über Kontinente hinweg – ihr zweiter Ehemann. Seinetwegen sind wir, als ich 14 war, in die USA ausgewandert, meine Mutter hat studiert, ist in die Forschung gegangen und wurde Professorin. Ihr großer Lebenstraum hat sich erfüllt, und die Scheidung war ihr Sprungbrett.

Ja, ich habe sehr unter der Scheidung meiner Eltern gelitten. Aber wie bei meiner Mutter war auch meine Scheidung der Beginn eines neuen, glücklicheren Lebens. Mit dem Mann, den ich während dieser verkorksten Ehe kennengelernt habe, habe ich heute drei Kinder – einen zehnjährigen Jungen, ein siebenjähriges Mädchen, und im Februar ist noch unser Nachzügler geboren worden. Vor fünf Wochen haben wir, nach 14 Jahren Beziehung, spontan geheiratet.

Mein Mann ist übrigens auch ein Scheidungskind, anders als meine vorherigen Freunde. Die hatten alle eine intakte Familie im Hintergrund – von solchen perfekten Familien war ich schon immer fasziniert. Aber vielleicht schafft gerade die Erfahrung als Scheidungskind, die wir beide gemacht haben, eine gemeinsame Basis. Wir wissen, dass immer die Gefahr einer Trennung besteht, wenn man sich vergisst. Und sicher war das auch ein Grund, warum wir so lange mit dem Heiraten gewartet haben.

Im Standesamt war es nicht sonderlich feierlich. Wir haben gefrotzelt, dass bei uns alles verkehrt herum läuft: erst Kinder, dann Haus, dann Ehe. Meine Mutter, die weit weg wohnt, konnte nicht dabei sein und war sehr traurig. Deshalb holen wir die kirchliche Trauung bei ihr zu Hause nach. Das Heiraten ist in meiner Familie trotz aller Fehltritte offenbar wichtig geblieben. –––––

Was erzählen uns diese vier Biografien? Vielleicht, dass wir Scheidungskinder ein Problem haben, aber dass wir uns davon befreien können. Dass sich für uns alles darum dreht, die Bedeutung unserer Familiengeschichte zu erkennen. Und dass diese Geschichte keine Entschuldigung dafür ist, uns nicht anzustrengen. Scheidungskinder haben ein Schicksal. Sie dürfen sich ihm bloß nicht ergeben.

Quelle: Zeit Online – http://www.zeit.de/zeit-magazin/2014/18/scheidungskinder-risiko-trennung/seite-4

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