01.12.2010 – Datum – Tierarzt und Wolf

Die Kinder- und Jugendorganisation Pro Juventute kam jüngst wegen Missbrauchsvorwürfen in die Schlagzeilen. Doch die Missstände gehen über diese Vorfälle hinaus. Unhaltbare Methoden wurden angewendet, unliebsame Mitarbeiter gekündigt und Missbrauchsfälle …

Manche Spiele spielt man nicht. Schon gar nicht mit Sabrina (Name von der Redaktion geändert). Im Alter von drei Jahren wurde das Mädchen von ihrem eigenen Vater sexuell missbraucht, bis sie im Kindergarten über Schmerzen im Unterleib klagte. „Dort, wo der Papa den Stachel reinsteckt“, soll Sabrina gesagt haben – erzählen ihre Betreuerinnen heute. Sabrina wohnt nicht mehr bei ihren leiblichen Eltern; sie lebt seither in einem Haus der Kinder- und Jugendbetreuungsorganisation Pro Juventute.

Am Ortsrand der niederösterreichischen Gemeinde Langenlebarn, rund 35 Autominuten nordwestlich von Wien, ist Sabrina in einer von Sozialpädagogen betreuten Wohngemeinschaft untergebracht. In dem von hochgewachsenen Thujen eingezäuntem Haus wächst sie mit acht anderen Kindern und Jugendlichen auf. Hier sollen ihre seelischen Wunden heilen; hier soll sie zu einem selbstständigen Menschen heranreifen, soll Sabrina Geborgenheit und Stabilität finden. „Voll Freude, mit Sinn“, wie Pro Juventute auf seiner Website wirbt.

Manche Spiele spielt man aber nicht. Schon gar nicht mit Sabrina. Ihren Betreuer Siegfried A. hält das nicht ab. Er lässt sich auf ein Spiel ein, das so oder so nicht hätte stattfinden dürfen. Wie immer ist auch in der betreffenden Nacht nur ein Erwachsener im Haus in Langenlebarn. Diesmal ist es A. „Am Abend will sie noch mit mir Tierarzt und Wolf spielen. Dabei erwische ich sie im Dunkeln mit der Hand. Sie sagt, dass ich ihr eine Ohrfeige gegeben habe, auch wenn das nicht stimmt.“ Diese Sätze vermerkt Siegfried A. nach seiner Schicht in der Nacht zum 6. April 2010 im Dienstbuch, wo es für jedes Kind eine eigene Spalte gibt, in die Betreuer Allfälliges und Auffälliges notieren können.

Der Tag danach. Die Kolleginnen übernehmen die Kinder von Siegfried A. „Es war furchtbar. Sabrina war extrem verhaltensauffällig. Sie hetzte die anderen Kinder gegeneinander auf und schimpfte viel“, sagen sie. Als die Pädagoginnen den Eintrag im Dienstbuch lesen, glauben sie ihren Augen nicht zu trauen: „Das ist ein absolutes Tabu. Mit missbrauchten Mädchen spielt man in unserem Job nicht solche Spiele, besonders nicht bei ihr. Das ist ungesund.“

Was sich tatsächlich in dieser April-Nacht zugetragen hat, lässt sich bis heute nicht zweifelsfrei klären. Siegfried A. kann sich auf Anfrage nicht mehr genau erinnern. Es sei eine Art Fangenspielen im Dunkeln gewesen. „Sabrina springt auf solche Dinge an“, sagt A. „Ich wollte sie nach unten drücken und habe sie am Hinterkopf erwischt.“ Selbst wenn es zu keinem anderen Übergriff außer einer „Ohrfeige“ gekommen ist: Ein pädagogisches No-Go bleibt es, so bestätigen Universitätsprofessoren und Sozialpädagogen, als Betreuer mit einem Mädchen im Dunkeln „Tierarzt und Wolf“ zu spielen.

Wie herausfordernd Kinder und Jugendliche sein können, weiß jede Mutter, jeder Vater. Immer wieder zeigen Kinder den Eltern deren eigene Grenzen auf, immer wieder kommt es in der Erziehung zu Grenzerfahrungen – und auch zum Überschreiten von Grenzen. Ausgebildete Pädagogen sind da nicht ausgenommen. Aber gerade Organisationen, die im staatlichen Auftrag Kinder und Jugendliche erziehen und dafür Geld von der öffentlichen Hand bekommen, müssen höchste Qualitätsstandards an ihre Mitarbeiter und deren Arbeit legen.

Und so steht das „Tierarzt und Wolf“-Spiel am Beginn einer Geschichte über die Kinder- und Jugendbetreuungsorganisation Pro Juventute: Ungeeignete Mitarbeiter werden aufgenommen, unbequeme und kritische Mitarbeiter hingegen gekündigt. Ehemalige und noch aktive Angestellte fühlen sich von Pro Juventute „im Stich gelassen“. Sie erzählen von pädagogisch unhaltbaren Erziehungsmethoden und auch von Missbrauchsfällen in mehreren Häusern der Organisation. Sie sprechen von fehlender Aufklärung von Vorwürfen und mangelhaften internen Kontrollen. Überlastete Angestellte leiden über Jahre hinweg unter überholten Betreuungskonzepten. An die Öffentlichkeit dringt während dieser ganzen Zeit kaum etwas. Im Gegenteil: In den Zeitungsarchiven finden sich ausschließlich positive Meldungen über die Organisation. Von Schwächen des Systems, von Missbrauchsfällen gar war nicht die Rede. Bis jetzt.

Jüngst kommt Pro Juventute das erste Mal negativ in die Schlagzeilen. In einem Haus im steirischen Bad Mitterndorf soll nach Recherchen der Kleinen Zeitung die Pflegemutter Gundula H. ihr anvertraute Kinder unter anderem „barfuß und nur mit Hose und T-Shirt bekleidet“ im Schnee stehen gelassen haben; ihnen Schokolade und Eier zu essen gegeben haben, bis die Kinder erbrachen. „Ein Mädchen musste das Erbrochene aufessen, ein Bub einen Regenwurm schlucken. Die Kinder wurden in einen dunklen Schuppen gesperrt und schrien vor Angst“, ist in der Kleinen Zeitung zu lesen. Was genau in Bad Mitterndorf passierte und ob sich die Vorwürfe als wahr und strafrechtlich relevant herausstellen, ist zurzeit Sache der Staatsanwaltschaft Leoben. Für alle Beteiligten gilt die Unschuldsvermutung.

Fakt ist: Ein über die Jahrzehnte gewachsenes System beginnt langsam aufzubrechen – und das damit verbundene Schweigen. Mehr als ein Dutzend ehemalige und noch aktive Mitarbeiter sprachen mit DATUM über ihre Arbeit und über Missstände bei Pro Juventute. Sie wollen anonym bleiben. Aus Angst, den Job zu verlieren. Aus Furcht, in der kleinen Branche keinen Arbeitsplatz mehr zu finden. Und aus Angst vor Klagen. „Ich finde, dass die Zeit des Vertuschens vorbei ist“, sagt ein ehemaliger Mitarbeiter, der jahrelang bei Pro Juventute arbeitete. „Es geht nicht um die einzelnen Personen, sondern das System, das dahintersteckt.“

Seit mehr als sechs Jahrzehnten weisen amtliche Jugendwohlfahrtsstellen dem in Salzburg beheimateten Verein „Österreichische Pro Juventute-Kinderdorfvereinigung“ Kinder und Jugendliche zu. Rund 70 Prozent der Vereinseinnahmen sind öffentliche Gelder aus den einzelnen Bundesländern, den überwiegenden Rest machen Spenden der österreichischen Bevölkerung aus.

Pro Juventute betreibt laut Jahresbericht 2009 österreichweit 24 Wohngemeinschaften, sieben Beratungsstellen, zwei Kinder-Tagesbetreuungsstellen sowie ein Ausbildungszentrum für Pflegeeltern. 203 Kinder und Jugendliche lebten 2009 in Häusern von Pro Juventute, insgesamt 252 Mitarbeiter beschäftigt der Verein. Oder, besser gesagt: dessen 100-Prozent-Tochter, die Pro Juventute Sozial Dienste GmbH. Dass viele Mitarbeiter nicht namentlich zu den von ihnen erhobenen Vorwürfen stehen wollen, hat einen weiteren Grund. Er findet sich in den Dienstverträgen und nennt sich Verschwiegenheitsklausel: „Der Arbeitnehmer verpflichtet sich zur strengsten Verschwiegenheit über alle Tatsachen, die ihm im Zusammenhang mit der Ausübung seiner Tätigkeit bekannt werden. Diese Verpflichtung erstreckt sich auch auf die Zeit nach Beendigung des Arbeitsverhältnisses.“

Mit 1. Juli 2010 tritt Sabine Kornberger-Scheuch ihre Stelle als kaufmännische Direktorin von Pro Juventute an. Rund zwei Monate später sieht sie sich mit einer der schwersten Krisen in der Geschichte der Organisation konfrontiert. „Ein Inferno“ nennt die Direktorin den Ansturm der Medien nach Bekanntwerden der Vorfälle in Bad Mitterndorf. „Wir haben 16 Stunden durchtelefoniert.“ Die 42-jährige Absolventin der Betriebswirtschaftslehre, Soziologie und Psychologie ist angetreten mit dem Ziel, „Pro Juventute zu einem wirtschaftlich gut geführten Unternehmen zu machen“.

Für sie heißt das unter anderem: „bestmögliche Betreuungsqualität ohne Verschuldung“. Mittlerweile hat sie auch die Agenden des pädagogischen Direktors Emanuel Freilinger übernommen, der auf unbestimmte Zeit im Krankenstand ist und daher für ein Interview nicht erreichbar war. Kornberger-Scheuch soll die Organisation in die Zukunft führen. Was vor dem Beginn ihrer Tätigkeit passiert ist, soll ihr dabei möglichst nicht in den Weg kommen. „Warum interessieren Sie sich so für die Vergangenheit?“, fragt sie in einem ersten Telefonat. Vergangenheitsbewältigung ist innerhalb der Organisation nicht selbstverständlich. Dabei wäre genau das notwendig. Denn Bad Mitterndorf ist kein Einzelfall.

In Langenlebarn, dem Zuhause von Sabrina, setzte etwa eine Pflegemutter Kinder nächtens auf die Kellerstiege. In einer Einrichtung in der niederösterreichischen Stadt Klosterneuburg lebten Kinder bei Pflegeeltern, deren Hunde das Haus verdreckten. Unhygienische Zustände waren die Folge. Die Kinder und Jugendlichen, die – so stellte sich im Nachhinein heraus – zum Teil selbst verwahrlost waren, mussten den Hundekot wegputzen. Mitarbeiter berichten von weiteren Missbrauchsfällen und Grenzüberschreitungen, darunter Verhältnisse zwischen Betreuern und Minderjährigen sowie sexuelle Übergriffe, die gerichtsanhängig waren. Da der eingeweihte Personenkreis jedoch sehr klein ist, können diese Fälle nicht in der Zeitung erzählt werden, ohne damit die Identität der Betroffenen zu verraten.

Gleich ob in Bad Mitterndorf, Langenlebarn oder Klosterneuburg, all diese Fälle haben eines gemeinsam: Sie passierten in sogenannten Familienwohngruppen (FWG). Seit 1947 die drei Lehrerehepaare Maislinger, Schubert und Walla das Fundament für den heutigen Verein legten, indem sie Kriegswaisen aufnahmen und diese wie ihre eigenen Kinder aufzogen, waren solche Familienwohngruppen die Kernkompetenz von Pro Juventute.

Das Konzept ist einfach, es ähnelt jenem einer Pflegefamilie: Ein Ehepaar entscheidet sich, Pflegekinder aufzunehmen, bewirbt sich bei Pro Juventute, bekommt ein Haus zur Verfügung gestellt und dann Kinder zugewiesen. Die überwiegende Zahl der mehr als 5.000 Kinder und Jugendlichen, die nach eigenen Angaben seit Vereinsgründung von Pro Juventute betreut wurden, wuchs in solchen Familienwohngruppen auf. „FWGs waren lange Zeit das Erfolgskonzept“, sagt ein Mitarbeiter. „Nach außen wurde die heile Welt von Vati und Mutti vermittelt und damit das gesellschaftliche Idealbild einer intakten Familie aufrechterhalten.“

Was lange nicht nach außen drang, waren die Schwächen des Konzepts. Anders als in „normalen“ Pflegefamilien wurden in den Familienwohngruppen nicht nur ein oder zwei fremde Kinder den Pflegeeltern übergeben, sondern acht, neun, zehn oder mehr. Vereinsintern dürfte Martha Gerersdorfer, langjährige Pro-Juventute-Pflegemutter aus Oberösterreich, den Rekord halten: Wie im Jahresbericht 2006 nachzulesen ist, schaffte sie es einmal, 38 Kinder gleichzeitig zu betreuen.

Pflegeeltern von Pro Juventute waren über viele Jahre hinweg entweder schlecht oder gar nicht ausgebildet. Bis 1993 kümmerten sie sich lediglich ehrenamtlich um die ihnen anvertrauten Kinder. Seither wird ein Elternteil, meist die „Mutter“, angestellt. Mitte der Neunzigerjahre beginnt Pro Juventute, das Konzept der Massen-FWGs aufzugeben. Nach und nach werden die Einrichtungen auf Sozialpädagogische Wohngemeinschaften (SWG) umgestellt. Ein mehrköpfiges Team ausgebildeter Sozialpädagogen kümmert sich in diesen rund um die Uhr um die Kinder und Jugendlichen. Es gibt Schichtdienste, regelmäßige Teambesprechungen und Supervisionen, in denen mit externen Coaches die Erziehungsmethoden laufend evaluiert und angepasst werden.

Susanne Czemetschka arbeitete neun Jahre lang bei Pro Juventute, die letzten vier davon in leitender Position in einer mittlerweile geschlossenen Einrichtung in Mitterndorf an der Fischa, Niederösterreich. Während ihrer Zeit bei Pro Juventute lernt Czemetschka auch Gundula H., die frühere Betriebsrätin und mittlerweile in Ungnade gefallene Pflegemutter aus dem steirischen Bad Mitterndorf, kennen.
„Ich finde, sie ist eine sehr warmherzige, nette Frau“, sagt Czemetschka. Sie weigert sich, Personen die alleinige Schuld an Fehlern wie in Bad Mitterndorf zu geben. Czemetschka nimmt die Organisation in die Pflicht: „Es ist dieses System, das dazu beiträgt, so zu reagieren. Müsste ich unter solchen Bedienungen arbeiten, und da ist niemand ausgenommen, würde ich vielleicht auch zu diesen extremen Erziehungsmethoden wie in Bad Mitterndorf greifen.“

Die Pflegeeltern in den Familienwohngruppen waren extrem Burn-out- und missbrauchsanfällig“, sagt eine weitere langjährige Mitarbeiterin. Sie versucht eine Erklärung, wie es zu den möglichen Vorfällen in Bad Mitterndorf und weiteren FWGs kommen konnte: „Mit wenigen Ausnahmen waren die Pflegeeltern schlicht überfordert. Dadurch tendierten sie in Richtung Systemerhaltung mit verbotenen Mitteln.“

Erst im Herbst 2011, also mehr als 15 Jahre nach ihrem Beginn, soll die Umwandlung der Familienwohngruppen in sozialpädagogisch betreute Wohngemeinschaften abgeschlossen sein. Mitverantwortlich für die schleppende Anpassung dürften finanzielle Einbußen des Vereins gewesen sein. „Wir bekommen gleich viel Geld, aber bei den SWGs ist ein anderer Betreuungsschlüssel vorgeschrieben“, sagt Direktorin Kornberger-Scheuch. Soll heißen: Mit dem gleichen Geld müssen mehr Arbeitsstunden bezahlt werden. Ein ehemaliger Mitarbeiter bringt es so auf den Punkt: „FWGs waren einträglicher für den Trägerverein. Sie erlaubten, mit geringem Personalaufwand viele Kinder unterzubringen. Es waren die Melkkühe der Organisation.“ Mitte der Neunzigerjahre, als Pro Juventute mit der Umstellung der Familienwohngruppen beginnt, wird klar: Die fetten Jahre sind vorbei. Einerseits dürfte die Chefetage lange Zeit über ihre Verhältnisse gelebt haben, andererseits bricht das Spendenaufkommen ein, weil viele langjährige Spender versterben. Tatsächlich sei die wirtschaftliche Situation über viele Jahre „prekär“ gewesen, bestätigt Kornberger-Scheuch im Interview. 2009 habe man endlich den Turnaround geschafft. Die Einnahmen betragen zu diesem Zeitpunkt laut Jahresbericht rund 13,4 Millionen Euro. Etwa 9,1 Millionen Euro kommen aus Beiträgen der öffentlichen Hand, weitere 3,5 Millionen aus Spendengeldern.

Mehr als vier Jahrzehnte lang kontrolliert der mittlerweile verstorbene ehemalige Generalsekretär Wolfgang Gruber die Organisation. Sein Führungsstil ist in der Chefetage umstritten und bei den Angestellten berüchtigt. „Früher, in den Jahren, als Geld da war, haben Typen wie Generalsekretär Wolfgang Gruber feudal gelebt. Da wurden große Feste gefeiert“, erinnert sich ein ehemaliger Mitarbeiter. „Gruber hatte Nähe zu bestimmten Einrichtungen. Die bekamen Extras, durften zum Beispiel auf Luxusreisen fahren. Das war nach Gutdünken des Generalsekretärs. In den letzten Jahren seiner Tätigkeit war er ein zynischer Hedonist, ein ausgebrannter Genussmensch. Eine gerechte Verteilung der Mittel war unter ihm nicht gewährleistet.“

„Wolfgang Gruber war von 1964 bis 2002 dabei – welches Unternehmen hat so lange denselben Geschäftsführer?“, sagt die heutige Direktorin Kornberger-Scheuch. „Hier ist viel gewachsen, niemand hat Dinge hinterfragt. Das waren ganz andere Strukturen, als wir sie jetzt haben. Die Organisation wurde patriarchalisch geführt. So, wie er es gesagt hat, war es.“ Und so war es, wie mehrere Mitarbeiter bestätigen, üblich, dass der Generalsekretär immer wieder zu Kurzurlauben in die einzelnen Einrichtungen aufbrach, wo man ihm ein Gästezimmer zur Verfügung stellen musste.

Laut Aussagen ehemaliger Mitarbeiter dürfte sich in den vierzig Jahren, in denen Gruber die Organisation leitete, noch ein anderes Verhaltensmuster etabliert haben: das Vertuschen. „Bei Schwierigkeiten war es eine Vorgabe von Gruber, die Dienstverträge einvernehmlich zu lösen“, sagt eine Mitarbeiterin. „Den ‚Super-GAU‘ hat Gruber einmal so beschrieben: wenn ein Mitarbeiter vor den Augen eines Krone-Reporters ein Kind vergewaltigt. Er hat dabei nicht an das Kind gedacht, sondern daran, dass die Spenden einbrechen werden.“

Als Sabrina nach dem Missbrauch durch ihren eigenen Vater vor rund acht Jahren in das Pro-Juventute-Haus in Langenlebarn einzieht, wartet dort noch das alte pädagogische Konzept der Familienwohngruppen auf das kleine Mädchen. Vera G. wird ihre Pflegemutter. Bereits 1992 hat G. bei dem Verein begonnen. „Ich wollte eigentlich nur ein Pflegekind zu meiner jüngsten Tochter dazunehmen“, erzählt die heute 48-Jährige über ihre anfängliche Motivation. „Bei Pro Juventute hieß es damals: insgesamt acht Kinder. Also drei eigene und fünf zusätzliche Pflegekinder. Das war es von Anfang an nicht. Im Schnitt habe ich zehn Kinder gehabt.“ Rund um die Uhr ist G. für die Kinder da; zieht neben den eigenen auch fremde Kinder auf, gibt ihnen ein Zuhause. Irgendwann unterläuft auch ihr ein Fehler. Sie verliert die Nerven, setzt Kinder als Strafe auf die Kellerstiege. „Das betrifft ein Kind sicher, eventuell zwei weitere auch. Das war nicht richtig, die Kinder hatten Angst“, sagt G. „Ich war überfordert, aber es war keine andauernde Erziehungsmaßnahme.“

„Wenn Eltern überlastet sind, können sie in einen Ausnahmezustand geraten, in dem sie die Bedürfnisse der Kinder gar nicht mehr wahrnehmen können“, sagt Johannes Gstach, Assistenzprofessor für Psychoanalytische Pädagogik an der Universität Wien. Jeder Mensch habe individuelle Grenzen, müsse „hin und wieder durchatmen“.
„Wenn diese Grenzen permanent negiert werden, nicht nur durch die Masse der Kinder, sondern auch durch institutionelle Rahmenbedingungen, kann es passieren, dass irgendwann nicht nur der Kragen platzt, sondern mehr: dass es zum psychischen Zusammenbruch kommt“, sagt Gstach. Das geschehe aber nicht plötzlich. „Die Signale werden gesendet. Die Institutionen könnten, wenn sie sensibel sind, schon vorher reagieren und so vorbeugen.“

Seit 2007 teilt sich ein siebenköpfiges Team die Dienste in der SWG in Langenlebarn. Rund um die Uhr werden Sabrina und die anderen Kinder betreut. Sozialpädagoginnen kümmern sich um die „fremd untergebrachten“ Kinder, wie man es in der Sprache der Jugendwohlfahrt nennt, wenn Eltern das Sorgerecht über ihre Kinder entzogen wird oder sie freiwillig darauf verzichten, ihre leiblichen Kinder aufzuziehen. „Jedes Kind hat ein Packerl zu tragen“, sagt eine Pädagogin aus jenem Team, das noch bis vor kurzem in Langenlebarn für die Betreuung verantwortlich war. Manche sind verwahrlost, andere haben einen Säufer als Vater oder wurden wie Sabrina sexuell missbraucht.

In SWGs kommt es zu weniger Übergriffen und Grenzüberschreitungen, weil das Konzept transparenter ist. „In Familiensysteme kann man schwer hineinschauen. In WGs, in denen fünf oder mehr Erzieher arbeiten, wird eine solche Sache viel eher ruchbar“, sagt Josef Scheipl, Leiter des Instituts für Erziehungs- und Bildungswissenschaften an der Karl-Franzens-Universität Graz.

Die Mitarbeiterinnen achten darauf, dass die Kinder ihre Hausübungen machen, sie spielen mit ihnen, versuchen sie zu stabilisieren und so nahe wie möglich an ein „normales“ Heranwachsen zu führen. Dass es trotzdem auch in dieser Betreuungsform zu Problemen kommen kann, zeigt sich einmal mehr in der Pro-Juventute-Einrichtung Langenlebarn. Bis vor wenigen Monaten scheint dort zwar nicht alles optimal, aber vieles gut zu laufen. Bis zur Nacht auf den 6. April.

Geschlossen weigern sich die Frauen im Team, mit Siegfried A. nach dessen nächtlichem „Tierarzt und Wolf“-Spiel weiterzumachen. „Wir konnten es einfach nicht verantworten, dass er weiter mit den Kindern arbeitet“, sagt eine ehemalige Mitarbeiterin. „Dreimal haben wir ihn auf den Vorfall angesprochen, dreimal hat er eine andere Geschichte erzählt“, sagt eine andere.

„Ich weiß nicht, wo es genau passiert ist, in ihrem Zimmer oder im Wohnbereich“, sagt Siegfried A. heute. Jedenfalls habe er zuvor mit Sabrina den Film „Kim und die Wölfe“ gesehen, danach habe sie das Spiel spielen wollen. „Aber ich habe nichts zu verbergen. Ich habe das im Dienstbuch vermerkt. Es ist blöd gelaufen.“
Für seine Kolleginnen steht spätestens seit dem nächtlichen „Tierarzt und Wolf“-Spiel außer Frage: Mit Siegfried A. würde es in Zukunft nicht mehr gehen. Schon öfter hätten sich die Mitarbeiterinnen über ihren Kollegen und dessen pädagogische Methoden gewundert. So habe er sich von den Kindern „Supersigi“ rufen lassen. Und da ist noch diese SMS, die Siegfried A. an eine Kollegin schickt. Bis heute ist sie in ihrem Handy gespeichert: „Du gehörst einmal richtig durchgefickt.“

Mit Vorwürfen gegen seine Person sah sich Siegfried A. schon konfrontiert, bevor er seinen Job bei Pro Juventute antrat. „Er hat früher im Europahaus des Kindes im 16. Wiener Gemeindebezirk gearbeitet und soll dort eine Beziehung mit einer Minderjährigen eingegangen sein“, sagt eine ehemalige Mitarbeiterin bei Pro Juventute.

Laut Thomas Vecsey, dem Mediensprecher der Staatsanwaltschaft Wien, wurde gegen Siegfried A. tatsächlich wegen „Missbrauch eines Autoritätsverhältnisses“ ermittelt, das Verfahren aber „mangels ausreichender Verdachtslage“ im Jahr 2008 eingestellt. Die Anzeige war vom Europahaus des Kindes erstattet worden. Marianne Binder, die Leiterin der Wiener Kinder- und Jugendorganisation, bestätigt zwar, dass A. beim Europahaus beschäftigt war, sagt aber: „Ich bedaure, dass ich nicht mehr über diesen Ex-Mitarbeiter berichten darf. Die gesetzliche Situation erlaubt es nicht, über die Art der Beendigung und über deren Gründe Auskunft zu erteilen.“

Zu den Vorwürfen im Europahaus des Kindes sagt Siegfried A. heute: „Damals kam der Verdacht gegen mich wegen einer E-Mail auf.“ Es sei ein Missverständnis gewesen. „Ich hatte nichts mit dem 17-jährigen Mädchen. Ausschlaggebend war, dass ich E-Mails mit ihr geschrieben habe, was verboten war. Das wusste ich, habe mich aber nicht daran gehalten“, erzählt A. am Telefon. Über seine „dunkle Vergangenheit“, wie A. sagt, hat sich jedenfalls nie jemand erkundigt, bevor er in Langenlebarn seinen neuen Job antrat. „Von Pro Juventute hat niemand bei mir angerufen, um sich über den ehemaligen Mitarbeiter zu informieren“, sagt Marianne Binder, Leiterin des Europahauses des Kindes.

„Man kann uns richtigerweise vorwerfen, nicht angerufen zu haben. Aber A. war unbescholten“, sagt Sabine Kornberger-Scheuch, Direktorin von Pro Juventute. „Ab jetzt werden wir uns immer beim vorherigen Arbeitgeber informieren.“
Das nächtliche Spiel bleibt freilich nicht ohne Folgen. Weniger für Siegfried A. als für seine Kolleginnen in Langenlebarn. Brigitte Hofmann, die Regionalleiterin der niederösterreichischen Pro-Juventute-Häuser, handelt. Nicht A., sondern drei Mitarbeiterinnen aus dem Team werden gekündigt, eine Vierte hört später freiwillig auf. Eine fünfte Mitarbeiterin lässt sich in eine andere Einrichtung versetzen. Alle hatten sie nach dem Vorfall im April auf Aufklärung bestanden, Konsequenzen verlangt und sich geweigert, weiter mit A. zusammenzuarbeiten – das wurde ihnen zum Verhängnis, sind sich die Frauen sicher.

„Supersigi“ kommt hingegen glimpflich davon, er wird vorerst bei vollen Bezügen vom Dienst freigestellt und bekommt eine Bildungskarenz angeboten. Kornberger-Scheuch bestreitet einen Zusammenhang zwischen dem Vorfall mit A. und den Kündigungen der betroffenen Mitarbeiterinnen. „Als die Kündigungen ausgesprochen wurden, war Herr A. kein Thema“, sagt sie. Pädagogische Differenzen seien laut Kornberger-Scheuch mit ein Grund gewesen. Verlassen kann sie sich dabei einzig und allein auf die Aussage von Regionalleiterin Hofmann, die auf Anfrage nicht erreichbar war.

Einen Eindruck davon, was passieren kann, wenn solche Vorwürfe nicht aufgearbeitet werden, liefern die jahrzehntelangen Missbrauchsfälle in kirchlichen Einrichtungen: Die Kultur des Vertuschens setzt sich fort, es entsteht ein Klima der Angst.
Dabei wären mündige und selbstkritische Mitarbeiter wichtig, um Missstände frühzeitig zu erkennen und aufzuarbeiten, sagt Wilfried Dattler, Professor für Psychoanalytische Pädagogik an der Universität Wien: „Wenn nicht nur im Sinne eines Lippenbekenntnisses, sondern auch im Alltag spürbar wird, dass man von der Leitung bis zum Erzieher es ständig mit schwierigen Problemstellungen zu tun hat, ständig emotional involviert ist und dass eben auch auf allen Ebenen ständig Fehler passieren, dann kann das sogar ein Organisationsmerkmal sein.“

Um ein solches Klima zu schaffen, wäre laut Dattler gerade die Leitung der Organisation gefragt. „Man darf nicht den Eindruck erwecken: Je weiter es in der Hierarchie nach oben geht, desto mehr wird tabuisiert.“

Es ist ein schweres Erbe, das Direktorin Kornberger-Scheuch im Sommer 2010 angetreten hat. Auch die Organisation selbst bekommt immer wieder Briefe von Betroffenen. „Die gehen bis zu 25 Jahre zurück“, sagt die 42-Jährige. „Wir werden sämtliche Vorwürfe prüfen lassen. Das ist mir ein Anliegen, weil viel im Raum steht, das für manche Beteiligten nicht sehr angenehm ist.“

Sie selbst sieht darin gar Parallelen zu ihrem früheren Job. „Ich komme ursprünglich aus der Weinbranche“, sagt die frühere kaufmännische Leiterin von Wein & Co. „Nach dem Weinskandal hat man geglaubt, der österreichische Wein wäre kaputt. Aber es hat ihm gutgetan. Ich hoffe, dass es nach dieser ganzen Geschichte auch bei uns so sein wird.“

Demnächst soll eine externe Ombudsstelle damit beginnen, die Vorfälle der Vergangenheit zu klären. „Das gehört aufgearbeitet, und wir selbst können das nicht“, sagt Kornberger-Scheuch. Denn: „Niemand soll über sich selbst richten.“ Im Fall Langenlebarn hat sie bereits gehandelt. Siegfried A. wurde vor kurzem entlassen und angezeigt. Allerdings nicht, weil er „Tierarzt und Wolf“ mit Sabrina gespielt hat – es soll einen neuen Verdachtsfall gegen ihn geben.

Von Georg Eckelsberger und Florian Skrabal, Mitarbeit Elisabeth Gamperl

Quelle: Datum – http://www.datum.at/artikel/tierarzt-und-wolf/