10.03.2013 – FAZ – Zwei Jahre nach Fukushima: Die Liebe im Schatten des Atoms

Zwei Jahre nach Fukushima
Die Liebe im Schatten des Atoms

10.03.2013 · Zwei Jahre nach der Atomkatastrophe von Fukushima sind die Spuren oberflächlich beseitigt – doch nicht nur die psychischen Folgen des Unglücks bleiben. Zahlreiche Familien zerbrechen, vor allem die Frauen leiden.
Von Carsten Germis

Mit 27 Jahren hofft Chiemi Kamada, die seit ihrer Geburt in der Präfektur Fukushima lebt, endlich den Mann fürs Leben zu finden. Seit der Atomkatastrophe vom 11.März vor zwei Jahren ist das allerdings schwierig geworden. „Die Sorgen vor der Radioaktivität sind oft sehr vage, aber sie drücken vor allem den Frauen auf die Seele“, sagt sie. Japanische Männer gelten ohnehin nicht als besonders gesprächig. Die meisten würden die mögliche Gefahr einer radioaktiven Belastung einfach verdrängen. „Wir können mit den Männern hier über unsere Angst vor der Radioaktivität nicht sprechen“, bestätigt ihre Freundin Hiromi Higano.

Die Männer haben meist gute Jobs in Fukushima und wollen bleiben. Durch den Wiederaufbau der vom Tsunami zerstörten Gebiete boomt die Bauindustrie. Für Frauen sei es viel schwieriger, eine Arbeit zu finden. Viele ihrer Freundinnen überlegten, nach Tokio oder Osaka zu ziehen, wollten weit weg. „Das hat aber mehr mit der Sorge vor der Radioaktivität als mit den Jobs zu tun“, sagt Hiromi. Die Männer verstünden das nicht. Sie verlangten, dass ihre Freundinnen trotzdem blieben. „Viele Beziehungen sind daran schon zerbrochen“, berichtet sie. Und Chiemi ergänzt seufzend: „Es ist seit der Atomkatastrophe nicht mehr so leicht, einen geeigneten Mann zu finden.“

„Atom-Scheidung“

Doch auch das Zusammenbleiben bereitet Probleme. Seit Monaten steigt in Fukushima die Zahl der Scheidungen. Oft trennen sich Familien, in denen die Frauen mit kleineren Kindern fortzogen, die Männer wegen ihrer Arbeit aber blieben. „Genpatsu rikon“ nennen die Japaner dieses Phänomen, „Atom-Scheidung“. Das Japanische macht es einem leicht, solche neuen Wörter zu bilden. „Narita rikon“ ist auch so eine Neukreation, benannt nach dem Flughafen Narita, von wo aus die meisten internationalen Flüge starten. Weil es in Japan bis heute gesellschaftlich geächtet ist, wenn Männer und Frauen vor der Ehe zusammen wohnen, lernen sich viele Paare erst in ihren Flitterwochen richtig kennen. Zurück auf dem Flughafen Narita, denkt manche der frisch vermählten Ehefrauen schon über eine „Narita rikon“ nach, eine Scheidung.

Typisch für die wachsende Anzahl der „genpatsu rikon“, also der Atom-Scheidungen, ist die Geschichte von Miki. Unmittelbar nach der Katastrophe in den Atomreaktoren ist die 29 Jahre alte Frau mit ihrer dreijährigen Tochter geflohen und bei Verwandten in Tokio untergekommen. Sechs Wochen später nagte das schlechte Gewissen an ihr. War es richtig, die Familie zu trennen? Schweren Herzens ging Miki zurück zu ihrem Mann nach Fukushima. „Aber ist es dort sicher für meine kleine Tochter?“, fragte sie sich immer wieder. Die Regierung behauptet, die radioaktive Belastung sei so gering, dass keine Gefahr für die Kinder bestehe. Ausländische Experten berichten immer wieder anderes. Mikis Sorgen blieben. Sie achtete beim Einkauf darauf, Produkte aus anderen Regionen zu kaufen. Und mit niemandem konnte sie sprechen. Ihr Mann meinte nur: Es sei schon sicher.

Raum für Gespräche

Eines Tages traf das Paar bei einem Spaziergang zufällig den Vorgesetzten ihres Mannes. Bald machten sich die Männer lautstark lustig über all diese Frauen, die aus Angst vor Radioaktivität „völlig übertriebene Sorgen“ hätten und weggehen wollten. Ihr Mann und sein Chef amüsierten sich. Lächerlich, meinten sie. Miki stand neben ihnen und schwieg. „Kann ich mit so einem Mann eine Familie haben?“, fragte sie sich im Stillen. „Das Leben seines Kindes könnte bedroht sein, und er macht darüber Witze?“ Wenige Tage später blutete die Tochter aus der Nase. Wieder wuchs bei Miki die Angst, die radioaktive Belastung könne der Grund dafür sein. Und wieder lachte ihr Mann sie aus. „Stell Dich nicht so an.“ Am nächsten Tag saß Miki mit ihrer Tochter im Flugzeug nach Sapporo, der Hauptstadt der nördlichen Insel Hokkaido. „Das war’s“, sagte sie. Kurz darauf reichte sie die Scheidung ein.

Chiemi Kamada kennt solche Fälle. Sie gründete im Dezember eine Gruppe, in der Frauen über ihre Sorgen sprechen können. „Auch wenn sie offiziell immer wieder sagen, die Radioaktivität sei gering, die Belastung ist doch da. Und niemand kann wirklich sagen, wie gefährlich es für Kinder ist“, sagt Chiemi. Sollte man in Fukushima Kinder bekommen und aufziehen? Das fragten sich viele Frauen, auch sie selbst. Die Sprachlosigkeit zwischen jungen Frauen und Männern wächst. Kompromisse sind schwer zu finden: Wenn einer die Gefahr radioaktiver Belastung leugnet, der andere aber vor Angst kaum noch schlafen kann, ist Streit programmiert. Chiemi bietet diesen jungen Frauen die Möglichkeit, sich einmal im Monat zu treffen und über ihre Ängste und Gewissenskonflikte offen zu sprechen. 60 Mitglieder hat die Gruppe bereits, die erst gemeinsam kochen, Yoga machen oder stricken – nachmittags wird bei Kaffee und Kuchen über die Ignoranz der Männer geschimpft und die möglichen Gefahren der radioaktiven Belastung in Fukushima diskutiert.

Phänomen der „Atom-Scheidungen“

Unlängst hat eine Hilfsorganisation in Osaka erstmals versucht, das Phänomen der „Atom-Scheidungen“ zu untersuchen. An 700 Evakuierte aus Fukushima verschickte sie Fragebögen, 182 Menschen haben geantwortet. Diese Untersuchung ist zwar nicht repräsentativ, sie zeigt aber deutlich, wie groß das Problem ist. In 80 Fällen hat die gesamte Familie Fukushima verlassen, in 88 Fällen zogen allein die Mütter mit Kindern nach Osaka, während die Männer wegen ihrer Arbeit zu Hause blieben. 14 waren Singles. 90 Prozent der Befragten erklärten, sie wollten nicht wieder zurück nach Fukushima gehen, nur 17 Personen meinten: „Ich gehe zurück.“ Nach den Gründen gefragt, warum sie nicht wieder nach Fukushima wollten, kreuzten 159 „aus Angst vor der radioaktiven Belastung“ an, 118 erklärten, sie machten sich vor allem Sorgen um die Gesundheit ihrer Kinder.

Seit dem vergangenen Sommer steige die Zahl der Scheidungsberatungen deutlich, sagt Mayumi Furobe, Chefin der Organisation in Osaka. Viele Mütter seien zerrissen: zwischen der Angst vor Radioaktivität und den Sorgen um ihre Kinder einerseits und den verständnislosen Ehemännern in Fukushima andererseits. Sie stehen unter starkem psychischen Druck. „Dann kommt der Gedanke an Scheidung.“ 42 der Befragten bestätigten, sie hätten über Scheidung nachgedacht, drei waren bereits geschieden.

Sorgen und Streit

Dass die Zahl der Scheidungen steigt, hat auch mit dem japanischen Sozialrecht zu tun. In vielen Fällen, in denen Mütter mit Kindern in entfernte, sichere Regionen zogen, haben die Ehemänner schlicht die Zahlungen eingestellt. Geldentzug sollte die Frauen zwingen, mit den Kindern nach Fukushima zurückzukehren. Einen Kindergartenplatz, einen Job, Sozialwohnungen und staatliche Hilfen bekommen die Frauen in ihrer neuen Heimat nur dann schnell bewilligt, wenn sie alleinerziehend – also geschieden – sind. Als Alternativen bleiben, dem Druck des Mannes nachzugeben und zurück nach Fukushima zu gehen – oder die Scheidung.

Eine Frau aus Koriyama in der Präfektur Fukushima hat ihre Geschichte kürzlich in der Zeitung „Sankei“ öffentlich gemacht. Privates öffentlich zu bekennen ist ein Schritt, der in Japan viel schwieriger ist und viel seltener vorkommt als in europäischen Ländern. Die 30-Jährige hat sich erst ein Jahr nach der Katastrophe entschlossen, Koriyama zu verlassen. Die Kinder gingen zuvor jeden Tag mit dem Geigerzähler zur Schule, der die Strahlung misst. Nach außen habe sie den Erwartungen entsprochen und ein scheinbar normales Familienleben geführt. Eigentlich aber sorgte sie sich ständig um die Qualität des Wassers, fragte sich, welches Gemüse sie ihren Kindern anbieten könne. Schon bald sei es immer öfter zum Streit mit dem Ehemann gekommen. „Ich habe es dann einfach nicht mehr ausgehalten“, berichtet sie. Mit Sohn und Tochter, 7 und 8 Jahre alt, zog sie nach Kyoto. „Ich werde nie dieses Gefühl der Freiheit vergessen, als ich das erste Mal den Futon zum Trocknen ins Freie brachte und mir keine Sorgen um radioaktive Belastung machen musste.“

Stigmatisierung der Menschen aus Fukushima

Der verlassene Ehemann, der anfangs noch Verständnis für ihren Schritt gezeigt hatte, klagte immer heftiger. „Ich frage mich, wofür ich eigentlich arbeite?“, schrieb er. „Wenn ich nach Hause komme, ist das Haus leer. Niemand wartet dort auf mich.“ Wegen der möglichen Gesundheitsgefahren für ihre Kinder wollte die Frau jedoch nicht mehr zurück. „Nach Neujahr habe ich dann über eine Scheidung nachgedacht“, sagt sie. Noch hat sie den Scheidungsantrag aber nicht eingereicht. „Es ist doch absurd, wenn ich wegen der Atomkatastrophe geschieden werde“, findet sie. Es dürfe einfach nicht sein, dass der Unfall in Dai ichi, der schon das Leben so vieler Menschen in der Region zerstört habe, jetzt auch ihre Familie zerstöre.

Oft helfe es den Frauen schon, wenn sie offen über ihre Sorgen sprechen können, sagt Chieme Kamada. Dann lacht sie wieder. Für Frauen aus der Katastrophenregion sei es ja auch außerhalb Fukushimas nicht leicht, einen passenden Mann zu finden. In Japan werde zwar öffentlich viel von Solidarität mit den Opfern der Atomkatastrophe gesprochen, doch in der Wirklichkeit erleben viele Menschen aus Fukushima, dass sie ausgegrenzt werden. Es sind Fälle bekannt, in denen Eltern ihre Söhne dazu brachten, ihre Verlobung mit Frauen aus der Region zu lösen.

Die Stigmatisierung der Menschen aus Fukushima ist ein Problem, über das im Land des Lächelns bis heute nicht gerne gesprochen wird. Sie habe solche Reaktionen selbst bisweilen erlebt, wenn sie im Gespräch gesagt habe, dass sie aus Minami-soma komme; die Stadt liegt gut 20 Kilometer von den havarierten Atomreaktoren entfernt. Viele Menschen wollten dann lieber nichts mit ihr zu tun haben. Sie zögert kurz, dann lacht sie wieder. Womöglich hat sie noch einmal an ihren Heiratswunsch gedacht, bevor sie sagt: „Das kann ja vielleicht auch mal der erste Anlass zu einem guten Gespräch sein.“

Quelle: FAZ – http://www.faz.net/aktuell/zwei-jahre-nach-fukushima-die-liebe-im-schatten-des-atoms-12108688.html

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